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Lea. Die Madonna.
verliert. Das Wesen des Christenthumes: Liebe, Glaube und Hoff-
nung, Sehnsucht und selige Gewissheit des Überirdischen, welche
die Erde unter sich lässt, hat hier, nur in grösseren, antikisch ein-
fachen Formen, denselben wundervollen Ausdruck gefunden, wie
dereinst in der Pieta. Nichts Übermässiges, kein Konflikt —
Schönheit! — Giebt das nicht viel zu denken?
Antikisch auch, ja in noch höherem Grade, in ihrer Kopf-
bildung wie in dem Gewände mit dem Überwurf, erscheint die ge-
schmückte Schwester Lea. Ward ihr nicht die seelische Bedeutung
Rahels verliehen, so ist doch auch ihre Erscheinung von hoher
Vollendung: eine Geschlossenheit der Form, die an antike Statuen,
wie die der Flora Farnese oder der sogenannten Thusnelda, gemahnt,
und ein Kopftypus, der in seiner Verhältnissmässigkeit und Fülle
klassisch genannt werden muss.
Dass der Künstler in der Schöpfung dieser Statuen sich selbst
genug gethan, zeigt sich in dem seltenen Umstande, dass er sie
beide ganz vollendet hat.
Die Madonna.
Auch von dieser Frauengestalt gilt, was von den beiden Alle-
gorieen zu sagen war: ein hohes Schönheitsgefühl hat bei ihrer
Konzeption gewaltet. Rührt die vollendende Ausführung auch zu-
erst von Sandro Fancelli gen. Scherano, der 1537 an dem schon
vor 1532 vom Meister selbst begonnenen Werk arbeitete, dann von
Raffaello da Montelupo, der nach 1542 die letzte Hand daran legte,
her, verdient sie doch in viel höherem Maasse Bewunderung, als ihr
bisher zu Theil geworden ist. Der hohe Schwung freilich, der in
dem Entwürfe von 1513 der schwebenden Gestalt verliehen war,
fehlt ihr, aber ihre harmonische Erscheinung ist das Bild edler,
reiner Weiblichkeit. In ihrer Jungfräulichkeit und Anmuth fast,
möchte man sagen, Raphael’schen Madonnen vergleichbar, gestattet
sie den Gläubigen eine Annäherung, welche die herbe Grösse der
Mediceischen Gottesmutter verbietet. In leichter Haltung etwas
zur Seite gewendet, trägt sie auf hoch erhobenem linkem Arm, mit
der Rechten es umfassend, das Kind, das, lebhaft nach rechts sich
wendend, mit einem Vogel spielt, und schaut mit anmuthiger Nei-
gung des Hauptes auf den Beschauer herab. Man gewinnt den
Eindruck, als habe es Michelangelo verlangt, einmal aus der furcht-
baren Einsamkeit seines übergrossen Schauens in das trauliche
Lea. Die Madonna.
verliert. Das Wesen des Christenthumes: Liebe, Glaube und Hoff-
nung, Sehnsucht und selige Gewissheit des Überirdischen, welche
die Erde unter sich lässt, hat hier, nur in grösseren, antikisch ein-
fachen Formen, denselben wundervollen Ausdruck gefunden, wie
dereinst in der Pieta. Nichts Übermässiges, kein Konflikt —
Schönheit! — Giebt das nicht viel zu denken?
Antikisch auch, ja in noch höherem Grade, in ihrer Kopf-
bildung wie in dem Gewände mit dem Überwurf, erscheint die ge-
schmückte Schwester Lea. Ward ihr nicht die seelische Bedeutung
Rahels verliehen, so ist doch auch ihre Erscheinung von hoher
Vollendung: eine Geschlossenheit der Form, die an antike Statuen,
wie die der Flora Farnese oder der sogenannten Thusnelda, gemahnt,
und ein Kopftypus, der in seiner Verhältnissmässigkeit und Fülle
klassisch genannt werden muss.
Dass der Künstler in der Schöpfung dieser Statuen sich selbst
genug gethan, zeigt sich in dem seltenen Umstande, dass er sie
beide ganz vollendet hat.
Die Madonna.
Auch von dieser Frauengestalt gilt, was von den beiden Alle-
gorieen zu sagen war: ein hohes Schönheitsgefühl hat bei ihrer
Konzeption gewaltet. Rührt die vollendende Ausführung auch zu-
erst von Sandro Fancelli gen. Scherano, der 1537 an dem schon
vor 1532 vom Meister selbst begonnenen Werk arbeitete, dann von
Raffaello da Montelupo, der nach 1542 die letzte Hand daran legte,
her, verdient sie doch in viel höherem Maasse Bewunderung, als ihr
bisher zu Theil geworden ist. Der hohe Schwung freilich, der in
dem Entwürfe von 1513 der schwebenden Gestalt verliehen war,
fehlt ihr, aber ihre harmonische Erscheinung ist das Bild edler,
reiner Weiblichkeit. In ihrer Jungfräulichkeit und Anmuth fast,
möchte man sagen, Raphael’schen Madonnen vergleichbar, gestattet
sie den Gläubigen eine Annäherung, welche die herbe Grösse der
Mediceischen Gottesmutter verbietet. In leichter Haltung etwas
zur Seite gewendet, trägt sie auf hoch erhobenem linkem Arm, mit
der Rechten es umfassend, das Kind, das, lebhaft nach rechts sich
wendend, mit einem Vogel spielt, und schaut mit anmuthiger Nei-
gung des Hauptes auf den Beschauer herab. Man gewinnt den
Eindruck, als habe es Michelangelo verlangt, einmal aus der furcht-
baren Einsamkeit seines übergrossen Schauens in das trauliche