Der Prophet und die Sibylle.
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Bereich des schlicht Menschlich-Natürlichen herabzusteigen und
eine Sprache zu reden, die Allen liebgewohnt und vertraulich.
Seltsames Schicksal! Man erkannte ihn in diesem Werke nicht, weil
man von ihm Anderes gewöhnt war, und ging gleichgültig an einer
Schöpfung vorüber, welcher sich an Formenschönheit und Innigkeit
der Empfindung kaum eine andere Marienstatue der Hochrenaissance
an die Seite stellen lässt.
Die Schuld an solcher Verkennung, wie an der ungenügenden
Würdigung der Rahel und Lea, trug die alles Interesse absorbirende
Riesengestalt des Moses und die abschreckende Nüchternheit der
Umgebung in dem oberen Geschosse.
Der Prophet und die Sibylle.
Wohl gleichzeitig mit der Madonna von Michelangelo begonnen,
sind die beiden Statuen, was auch die trockene Behandlung zeigt,
nach 1542 von Raffaello da Montelupo vollendet worden.
Die Sibylle ist eine hoheitsvolle Frauenerscheinung, von grossen
vollen Formen und ruhiger, würdigei" Bewegung. In ein ärmelloses,
unter der Brust gegürtetes Gewand und einen Mantel gekleidet,
den rechten Fuss vor-, den linken zurückgestellt, die Rechte vor
der Brust, die Linke gesenkt, schaut sie mit etwas geneigtem Haupte
nach unten. Die Glieder treten, wie bei Lea und Rahel, an deren
Typus ihr Kopf erinnert, unter der Gewandung deutlich hervor;
diese ist in einigen, scharf akzentuirten Diagonalfalten von dem
einen Bein zum anderen gezogen. Vielleicht, dieser Faltengebung
und der Stellung nach zu schliessen, gehört der Entwurf der frühen
Zeit, 1513, an.
Neben dieser königlichen Frau, deren Seele von feierlichen
Gefühlen geschwellt ist, spielt der jugendliche Prophet eine ziemlich
nichtssagende Rolle. Dass ein Seher gemeint ist, würde man
niemals errathen. Er trägt einen feldherrnartigen Mantel mit
Agraffe, drückt, vor sich hinschauend, die Rechte mit einem Buche
und dem Mantel an die Seite und hält mit der Linken eine Rolle
auf dem Beine. Von irgend welcher geistigen Erregung ist weder
in der schwerfälligen Gestalt, noch in dem Kopf mit dem kurz-
gelockten Haar etwas zu gewahren. Auch Michelangelo’s Hand,
hätte er die Statue selbst ausgeführt, würde ihr kaum grosse Bedeu-
tung haben verleihen können, denn ei' ist bei ihrem Entwürfe nicht
inspirirt gewesen, sondern hat ihn mit Gleichgültigkeit behandelt.
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Bereich des schlicht Menschlich-Natürlichen herabzusteigen und
eine Sprache zu reden, die Allen liebgewohnt und vertraulich.
Seltsames Schicksal! Man erkannte ihn in diesem Werke nicht, weil
man von ihm Anderes gewöhnt war, und ging gleichgültig an einer
Schöpfung vorüber, welcher sich an Formenschönheit und Innigkeit
der Empfindung kaum eine andere Marienstatue der Hochrenaissance
an die Seite stellen lässt.
Die Schuld an solcher Verkennung, wie an der ungenügenden
Würdigung der Rahel und Lea, trug die alles Interesse absorbirende
Riesengestalt des Moses und die abschreckende Nüchternheit der
Umgebung in dem oberen Geschosse.
Der Prophet und die Sibylle.
Wohl gleichzeitig mit der Madonna von Michelangelo begonnen,
sind die beiden Statuen, was auch die trockene Behandlung zeigt,
nach 1542 von Raffaello da Montelupo vollendet worden.
Die Sibylle ist eine hoheitsvolle Frauenerscheinung, von grossen
vollen Formen und ruhiger, würdigei" Bewegung. In ein ärmelloses,
unter der Brust gegürtetes Gewand und einen Mantel gekleidet,
den rechten Fuss vor-, den linken zurückgestellt, die Rechte vor
der Brust, die Linke gesenkt, schaut sie mit etwas geneigtem Haupte
nach unten. Die Glieder treten, wie bei Lea und Rahel, an deren
Typus ihr Kopf erinnert, unter der Gewandung deutlich hervor;
diese ist in einigen, scharf akzentuirten Diagonalfalten von dem
einen Bein zum anderen gezogen. Vielleicht, dieser Faltengebung
und der Stellung nach zu schliessen, gehört der Entwurf der frühen
Zeit, 1513, an.
Neben dieser königlichen Frau, deren Seele von feierlichen
Gefühlen geschwellt ist, spielt der jugendliche Prophet eine ziemlich
nichtssagende Rolle. Dass ein Seher gemeint ist, würde man
niemals errathen. Er trägt einen feldherrnartigen Mantel mit
Agraffe, drückt, vor sich hinschauend, die Rechte mit einem Buche
und dem Mantel an die Seite und hält mit der Linken eine Rolle
auf dem Beine. Von irgend welcher geistigen Erregung ist weder
in der schwerfälligen Gestalt, noch in dem Kopf mit dem kurz-
gelockten Haar etwas zu gewahren. Auch Michelangelo’s Hand,
hätte er die Statue selbst ausgeführt, würde ihr kaum grosse Bedeu-
tung haben verleihen können, denn ei' ist bei ihrem Entwürfe nicht
inspirirt gewesen, sondern hat ihn mit Gleichgültigkeit behandelt.