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Die Gewölbezwickel, Lünetten und Stichkappen.
Stichkappen kaum andere überhaupt in Betracht kommen, als die
seit altersher vom Glauben und der Kunst gefeierten Ereignisse:
die eherne Schlange, David und Goliath, Judith. Für die vierte
wählte er Hamans Bestrafung. Dass er zuerst an Isaaks Opfer ge-
dacht, sind wir anzunehmen nicht berechtigt, da der grossartige
Entwurf zu einer solchen Darstellung, in der Casa Buonarroti
(Verz. 62), nicht in dieser Zeit, sondern viel später entstanden
sein muss.
Künstlerische Rücksichten vornehmlich werden weiter ihn ent-
schieden haben, an den zwölf Gewölbezwickeln nicht zwölf, son-
dern nur sieben Propheten und fünf Sibyllen darzustellen. Er
musste darauf bedacht sein, Monotonie zu vermeiden. Und der
vollen Berechtigung und des allgemeinen Verständnisses hierfür
konnte er in einer Zeit gewiss sein, in welcher (seit dem Anfang
des XV. Jahrhunderts) die Sibyllen ein beliebter Vorwurf der bil-
denden Kunst geworden waren, mit den Propheten zusammen in
den Mysterien eine bedeutende Rolle spielten und von der Litteratur
ausführlich behandelt wurden. Was die Auswahl der Persönlich-
keiten betrifft, braucht uns diese hier noch nicht zu beschäftigen.
Eben die Einführung der Sibyllen dürfte zugleich von aus-
schlaggebender Bedeutung für die Idee geworden sein, die, nach
meiner Ansicht, den Bildern in den Lünetten und Stichkappen zu
Grunde gelegt ward. Traditionell war die Veranschaulichung der
Vorfahren Christi. Michelangelo bestimmte für sie die Lünetten;
indem er aber den Gedanken dieser auf den Erlöser hinführenden
Generationen verallgemeinerte und in ihnen die Repräsentanten der
erlösungsbedürftigen Menschheit erfasste, gelangte er dazu, wie den
Propheten die heidnischen Sibyllen, so den Juden dieser Lünetten
in den Stichkappen die Heiden zur Seite zu stellen und derart in der
That die ganze Menschheit zu schildern. Durch diese grosse Idee
zersprengt er gleichsam die Schranken des sonst festgehaltenen
mittelalterlichen Bilderkreises und führt von dem Mythus hinüber
in das allgemeine menschliche Leben und Leiden, das er in den zwei
Formen: häusliches Dasein und Wanderschaft verdeutlicht.
In solcher einfachen Weise, aus allbekannten allgemeinen Vor-
stellungen, aus künstlerischen Bedingungen und aus den diesen
entstammenden, über die Tradition hinausgehenden Ideen haben
wir uns den Entwurf für die mythisch-religiösen Darstellungen der
Decke hervorgegangen zu denken.
Die Gewölbezwickel, Lünetten und Stichkappen.
Stichkappen kaum andere überhaupt in Betracht kommen, als die
seit altersher vom Glauben und der Kunst gefeierten Ereignisse:
die eherne Schlange, David und Goliath, Judith. Für die vierte
wählte er Hamans Bestrafung. Dass er zuerst an Isaaks Opfer ge-
dacht, sind wir anzunehmen nicht berechtigt, da der grossartige
Entwurf zu einer solchen Darstellung, in der Casa Buonarroti
(Verz. 62), nicht in dieser Zeit, sondern viel später entstanden
sein muss.
Künstlerische Rücksichten vornehmlich werden weiter ihn ent-
schieden haben, an den zwölf Gewölbezwickeln nicht zwölf, son-
dern nur sieben Propheten und fünf Sibyllen darzustellen. Er
musste darauf bedacht sein, Monotonie zu vermeiden. Und der
vollen Berechtigung und des allgemeinen Verständnisses hierfür
konnte er in einer Zeit gewiss sein, in welcher (seit dem Anfang
des XV. Jahrhunderts) die Sibyllen ein beliebter Vorwurf der bil-
denden Kunst geworden waren, mit den Propheten zusammen in
den Mysterien eine bedeutende Rolle spielten und von der Litteratur
ausführlich behandelt wurden. Was die Auswahl der Persönlich-
keiten betrifft, braucht uns diese hier noch nicht zu beschäftigen.
Eben die Einführung der Sibyllen dürfte zugleich von aus-
schlaggebender Bedeutung für die Idee geworden sein, die, nach
meiner Ansicht, den Bildern in den Lünetten und Stichkappen zu
Grunde gelegt ward. Traditionell war die Veranschaulichung der
Vorfahren Christi. Michelangelo bestimmte für sie die Lünetten;
indem er aber den Gedanken dieser auf den Erlöser hinführenden
Generationen verallgemeinerte und in ihnen die Repräsentanten der
erlösungsbedürftigen Menschheit erfasste, gelangte er dazu, wie den
Propheten die heidnischen Sibyllen, so den Juden dieser Lünetten
in den Stichkappen die Heiden zur Seite zu stellen und derart in der
That die ganze Menschheit zu schildern. Durch diese grosse Idee
zersprengt er gleichsam die Schranken des sonst festgehaltenen
mittelalterlichen Bilderkreises und führt von dem Mythus hinüber
in das allgemeine menschliche Leben und Leiden, das er in den zwei
Formen: häusliches Dasein und Wanderschaft verdeutlicht.
In solcher einfachen Weise, aus allbekannten allgemeinen Vor-
stellungen, aus künstlerischen Bedingungen und aus den diesen
entstammenden, über die Tradition hinausgehenden Ideen haben
wir uns den Entwurf für die mythisch-religiösen Darstellungen der
Decke hervorgegangen zu denken.