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Jesajas.
angestrengten, erregten Denkens und im Augenblicke selbst ein
schmerzliches Empfinden. Schon längere Zeit — dies kündet
die gefesselte Stellung der Beine — ist er in tiefem leidvollem Nach-
sinnen über eine Stelle in seinem Buche entrückt gewesen, Alles
um sich herum vergessend! Die Wange war auf die linke Hand
gelehnt, die, indess die Rechte am Folianten ruht, in der Haltung
der Finger so deutlich die vorhergehende Stellung bewahrt, dass
Vasari, von der Erinnerung getäuscht, geradesweges behauptet, die
Hand stütze die Backe. Nun aber hat sich soeben, auf den Ruf
des einen vor Freude strahlenden Knaben hin, der nichts Anderes
als die Personifikation des neu erwachten Gedanken in des Pro-
pheten Geiste ist, der Kopf mechanisch erhoben. Gewiss steht er
noch unter dem Bann quälender Vorstellungen, aber eine Wandlung
ist eingetreten. „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube.“ Der nächste Augenblick muss den Glauben bringen, und
vor der lichten Erkenntniss, die sich so unwiderstehlich, wie der
Knabe, aufdrängt, wird das nächtige Dunkel des Grauens ver-
schwinden.
Wie konnte man nebensächliche Visionen des Jesajas, etwa die
der von Norden kommenden Heeresmassen (Justi) oder die auf
Ezechias bezüglichen Prophezeiungen (Steinmann) zum Ausgangs-
punkt der Deutung nehmen? Als ob nicht Jeder seit alten Zeiten
unter dem Namen Jesajas die zahlreichsten und bestimmtesten Weis-
sagungen auf Christus verstünde I Alle die Propheten und Sibyllen
haben ihre Stellung im Gemäldezyklus doch nur in Rücksicht auf
Christus, auf die Erlösung! Und der Künstler sollte bei diesem
überzeugendsten Verkündiger der frohen Botschaft nicht an deren
Bedeutung ganz im Allgemeinen, sondern an irgend welche einzelne
Visionen und noch dazu an solche, die gar nichts mit der Er-
lösungsidee zu thun haben, gedacht haben?
Nein! Die frohe Botschaft selbst ist hier dargestellt! Man
denkt an die Worte (52, 7. 8): „Wie lieblich sind auf den Bergen
die Füsse der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen,
Heil verkünden ; die da sagen zu Zion : Dein Gott ist König. Deine
Wächter rufen laut mit ihrer Stimme und rühmen mit einander.“
Die Weissagung, die auf den Spruchbändern des Propheten in allen
älteren Darstellungen steht: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger
und wird einen Sohn gebären, den wird sie heissen Immanuel“
(7, 14) — das ist es, was der Knabe, in ferne Zeiten weisend, ruft,
Jesajas.
angestrengten, erregten Denkens und im Augenblicke selbst ein
schmerzliches Empfinden. Schon längere Zeit — dies kündet
die gefesselte Stellung der Beine — ist er in tiefem leidvollem Nach-
sinnen über eine Stelle in seinem Buche entrückt gewesen, Alles
um sich herum vergessend! Die Wange war auf die linke Hand
gelehnt, die, indess die Rechte am Folianten ruht, in der Haltung
der Finger so deutlich die vorhergehende Stellung bewahrt, dass
Vasari, von der Erinnerung getäuscht, geradesweges behauptet, die
Hand stütze die Backe. Nun aber hat sich soeben, auf den Ruf
des einen vor Freude strahlenden Knaben hin, der nichts Anderes
als die Personifikation des neu erwachten Gedanken in des Pro-
pheten Geiste ist, der Kopf mechanisch erhoben. Gewiss steht er
noch unter dem Bann quälender Vorstellungen, aber eine Wandlung
ist eingetreten. „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube.“ Der nächste Augenblick muss den Glauben bringen, und
vor der lichten Erkenntniss, die sich so unwiderstehlich, wie der
Knabe, aufdrängt, wird das nächtige Dunkel des Grauens ver-
schwinden.
Wie konnte man nebensächliche Visionen des Jesajas, etwa die
der von Norden kommenden Heeresmassen (Justi) oder die auf
Ezechias bezüglichen Prophezeiungen (Steinmann) zum Ausgangs-
punkt der Deutung nehmen? Als ob nicht Jeder seit alten Zeiten
unter dem Namen Jesajas die zahlreichsten und bestimmtesten Weis-
sagungen auf Christus verstünde I Alle die Propheten und Sibyllen
haben ihre Stellung im Gemäldezyklus doch nur in Rücksicht auf
Christus, auf die Erlösung! Und der Künstler sollte bei diesem
überzeugendsten Verkündiger der frohen Botschaft nicht an deren
Bedeutung ganz im Allgemeinen, sondern an irgend welche einzelne
Visionen und noch dazu an solche, die gar nichts mit der Er-
lösungsidee zu thun haben, gedacht haben?
Nein! Die frohe Botschaft selbst ist hier dargestellt! Man
denkt an die Worte (52, 7. 8): „Wie lieblich sind auf den Bergen
die Füsse der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen,
Heil verkünden ; die da sagen zu Zion : Dein Gott ist König. Deine
Wächter rufen laut mit ihrer Stimme und rühmen mit einander.“
Die Weissagung, die auf den Spruchbändern des Propheten in allen
älteren Darstellungen steht: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger
und wird einen Sohn gebären, den wird sie heissen Immanuel“
(7, 14) — das ist es, was der Knabe, in ferne Zeiten weisend, ruft,