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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0036
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Die Tragik des menschlichen Schicksales.

War der grundlegende Gedanke im Lorenzodenkmal der gleiche,
wie in dem des Giuliano, so genügte doch die unterschiedene
Charakteristik der Persönlichkeiten, die Idee des Heldenthumes, die
im Giuliano nur einseitig beleuchtet worden wäre, in vollem Um-
fang zum Ausdruck zu bringen. Und hier gewinnt nun, wie mir
scheint, Kaisers Behauptung von der Charakteristik idealer Fürsten
als Vertreter der sittlichen Menschenwelt ihre volle Berechtigung.
Die Fürsten sind typische Bilder des Menschenthumes, das nach
seinen zwei Seiten des- aktiven und des kontemplativen Wesens, im
Sinne der Renaissance, geschildert wird. In Lorenzo alles durch
die Haltung tiefer sinnender Versenkung verdeutlicht, bei Giuliano
nicht nur durch die aufmerkende, thatbereite Haltung, sondern ausser-
dem noch durch den Herrscherstab und die in der Hand gehaltene
Münze, welche zugleich Macht und Liberalität bedeutet. Hier das
Äussere in Attributen, dort der rein innerliche Vorgang.
So erweitert sich vor unseren Augen die Fürstendarstellung zur
Menschheitsdarstellung, und nun werden dem mehr eindringenden Blick
auch die Allegorieen zu Symbolen von allgemein menschlichem Gehalt.
Der einfache, grundlegende und formbildende Gedanke der Todten-
klage des Kosmos gewinnt einen tieferen Bezug auf Menschenwesen
und Dasein. Das ist ja das alte, ewig neue Wunder des Mythus,
dass er neben seiner einfachen, sachlich bestimmten Bedeutung noch
eine tiefere, allgemeine besitzt. Es ward schon gesagt: diese Tag
und Nacht, Morgen und Abend erscheinen in menschlicher Gestalt.
Dieser Raum und diese Zeit sind wir selbst, ist unser Erdenleben.
Wir sind es, die schlafen und wachen, die leiden. Was in Raum
und Zeit befangen, ist dem Leiden unterworfen: das menschliche
Schicksal ist tragisch.

Nam nox nulla diem neque noctem Aurora sequuta est
Quae non audierit mistos vagitibus aegris
Ploratus mortis comites et funeres atri.
(Lucretius II, 579-)

„Die Steine werden reden“ — dass ihnen aber eine solche
Sprache verliehen ward, erklärt sich nur aus Einem: auch dieses
unerbittlich wahrhaftige und furchtbar schmerzliche Bekenntniss von
der Tragik des Lebens war eine Offenbarung des Leidens Michel-
angelos selbst: das Allgemeine ist ein höchst Persönliches!
 
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