Die Madonna del Velo.
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Arm nach vorne aus. Die den Geist des Vorgangs ins Erhabene
wandelnde, bedeutsame Veränderung entspricht durchaus Michel-
angelos Sinn; mir dünkt nichts lehrreicher für die Erkenntniss
der beiden Künstlernaturen in ihrem Verhältniss zu einander,
als der Vergleich der beiden Entwürfe. Und damit ist die mäch-
tige Wirkung des Werkes erklärt: ein grösster Genius spricht
zu uns.
Die Madonna del Velo in Neapel.
In zwei Gemälden hatte Raphael das Motiv: Maria lüftet einen
Schleier über dem Kinde, behandelt: in der Madonna del Velo,
wo Christus schlafend am Boden dargestellt ist und von der Mutter
dem kleinen Johannes gezeigt wird, und in der „Madonna di Loreto“
(nur in Kopieen erhalten), wo der Knabe, der vorne auf einer
Balustrade liegt, die Hände erwachend zu Maria emporstreckt,
indessen Joseph, auf einen Stab gestützt, zuschauend hervorblickt.
Mit dem letzteren Gemälde, den Gedanken aufnehmend, wetteifert
Sebastiano in seinem Neapeler Bilde. Sebastiano? Oder nicht viel
mehr Michelangelo?
Es ist von vorneherein wahrscheinlich, dass der Venezianer,
als er auf eine so kühne Konkurrenz sich einliess, des Meisters
Rath sich erbat. Er wird ihm, wie auch sonst, geschrieben haben :
„Ich würde es mir zutrauen, wenn Ihr mir eine kleine Skizze
macht.“
Und wieder gilt auch hier das Gesagte: ist nicht die vor-
genommene Änderung für Michelangelo charakteristisch? An die
Stelle zärtlichen Spieles ist seitens der Jungfrau feierliche, ja schwer-
müthige Betrachtung des schlafenden Kindes getreten, von dem die
Hände (an die Frau der Roboamlünette erinnernd) mit grösster
Zartheit — nicht einen Schleier, sondern — ein Tuch emporheben.
Die Maria Raphaels ist eine anmuthige, wenn auch des Ernstes nicht
entbehrende Mutter, die Michelangelos, deren Haupt, wenn gleich
der Blick gesenkt ist, der Medicimadonna ähnelt, eine Priesterin,
die ein Heiligthum bewacht und zeigt.
Was meine Vermuthung zur Gewissheit erhebt, ist die That-
sache, dass Michelangelo den Gedanken, an jene Skizze anknüpfend,
in einer Zeichnung entwickelte, die uns aus Stichen und zahlreichen
Kopieen bekannt ist. Ich meine
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Arm nach vorne aus. Die den Geist des Vorgangs ins Erhabene
wandelnde, bedeutsame Veränderung entspricht durchaus Michel-
angelos Sinn; mir dünkt nichts lehrreicher für die Erkenntniss
der beiden Künstlernaturen in ihrem Verhältniss zu einander,
als der Vergleich der beiden Entwürfe. Und damit ist die mäch-
tige Wirkung des Werkes erklärt: ein grösster Genius spricht
zu uns.
Die Madonna del Velo in Neapel.
In zwei Gemälden hatte Raphael das Motiv: Maria lüftet einen
Schleier über dem Kinde, behandelt: in der Madonna del Velo,
wo Christus schlafend am Boden dargestellt ist und von der Mutter
dem kleinen Johannes gezeigt wird, und in der „Madonna di Loreto“
(nur in Kopieen erhalten), wo der Knabe, der vorne auf einer
Balustrade liegt, die Hände erwachend zu Maria emporstreckt,
indessen Joseph, auf einen Stab gestützt, zuschauend hervorblickt.
Mit dem letzteren Gemälde, den Gedanken aufnehmend, wetteifert
Sebastiano in seinem Neapeler Bilde. Sebastiano? Oder nicht viel
mehr Michelangelo?
Es ist von vorneherein wahrscheinlich, dass der Venezianer,
als er auf eine so kühne Konkurrenz sich einliess, des Meisters
Rath sich erbat. Er wird ihm, wie auch sonst, geschrieben haben :
„Ich würde es mir zutrauen, wenn Ihr mir eine kleine Skizze
macht.“
Und wieder gilt auch hier das Gesagte: ist nicht die vor-
genommene Änderung für Michelangelo charakteristisch? An die
Stelle zärtlichen Spieles ist seitens der Jungfrau feierliche, ja schwer-
müthige Betrachtung des schlafenden Kindes getreten, von dem die
Hände (an die Frau der Roboamlünette erinnernd) mit grösster
Zartheit — nicht einen Schleier, sondern — ein Tuch emporheben.
Die Maria Raphaels ist eine anmuthige, wenn auch des Ernstes nicht
entbehrende Mutter, die Michelangelos, deren Haupt, wenn gleich
der Blick gesenkt ist, der Medicimadonna ähnelt, eine Priesterin,
die ein Heiligthum bewacht und zeigt.
Was meine Vermuthung zur Gewissheit erhebt, ist die That-
sache, dass Michelangelo den Gedanken, an jene Skizze anknüpfend,
in einer Zeichnung entwickelte, die uns aus Stichen und zahlreichen
Kopieen bekannt ist. Ich meine