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IV. Kapitel: Kritik.
Form, eine Art stenographischer Sigle, die um so mehr zum persönlichen
Merkmal der künstlerischen Individualität geeignet sein wird, je mehr sie
sich durch Unauffälligkeit der Nachahmung entzieht. Danach richtet sich
der Bestimmungswert der Details — und das gilt von den körperlichen so
gut wie von anderen — nach folgenden Bedingungen. 1. Daß sie nicht Träger
des Ausdrucks sind und daher individueller Gestaltung bedürfen; in der
Regel gilt das von der Nase, vom Auge hauptsächlich bei großen Künstlern,
die es wirklich zum Spiegel der Seele zu machen vermögen, während es
schwächeren Kräften leicht zu einer ständigen Form wird. 2. Daß sie nicht
die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn je mehr das der Fall ist, desto
mehr werden sie einerseits die individuelle Sorgfalt des Künstlers erfordern
und anderseits seinen Gefolgsleuten nachahmenswert erscheinen; dies gilt in
hohem Grade von den Details der Landschaftsbehandlung (Baumschlag,
Felsen, Wasser usw.), die die Spezialität eines Malers schienen und ganzen
Generationen späterer Maler als Schulvorlagen dienten. 3. Daß sie der Mode
nicht unterworfen sind, wie das für den Ausdruck des Mundes in den aller-
meisten, für den Charakter der Hände in vielen Zeiten gilt; denn der Mode-
mund und die Modehände werden den einer Generation angehörenden Künst-
lern mehr oder weniger gemeinsam sein. 4. Daß sie die Ausbildung von ab-
kürzenden Gepflogenheiten in der Ausführung fördern oder vielleicht fordern;
beim Haar z. B., wo eine getreue Wiedergabe des Einzelnen unmöglich und
daher eine Charakterisierung der ganzen Masse nötig ist, oder beim Ohr,
dessen komplizierte Struktur für den Gesamteindruck in der Regel gleich-
gültig ist, wird eine solche Ausbildung von Formeln ebenso leicht statt-
finden können wie etwa bei der Draperie, die ihr von innerer Beziehung zum
Dargestellten freies Faltenwerk zur Erzielung künstlerischer Wirkungen dar-
bietet. 5. Daß sie sich der Nachahmung und Nachbildung durch ihre Unauf-
dringlichkeit entziehen; dabei wird es sich nach dem Rang des Künstlers
richten, wie weit solche Eigenschaften im Dunkel bleiben können, bei einem
großen und charakteristischen Meister mögen auch scheinbar unbedeutende
Details die Aufmerksamkeit fesseln, während bei einem geringeren Maler nur
die Hauptzüge in Betracht kommen.
Diese fünf Bedingungen1) ergeben das Resultat, daß es gerade unbe-
deutende, der Aufmerksamkeit des Schaffenden und des Betrachtenden zu-
nächst entzogene Teile eines Kunstwerkes sind, die für das Studium der
individuellen Handschrift eines Künstlers zu beachten sind. Und diese
auf den ersten Blick paradoxal erscheinende Forderung, aus Ohrläppchen,
Fingernägeln und Faltenzügen das Ureigentliche einer persönlichen Schaffens-
weise erweisen zu sollen, mag den überaus heftigen Widerspruch erklären,
den die Lehre Morellis in ihren ersten Anfängen vielfach erregt hat; die
9 Berenson, a. a. O. S. 132.
IV. Kapitel: Kritik.
Form, eine Art stenographischer Sigle, die um so mehr zum persönlichen
Merkmal der künstlerischen Individualität geeignet sein wird, je mehr sie
sich durch Unauffälligkeit der Nachahmung entzieht. Danach richtet sich
der Bestimmungswert der Details — und das gilt von den körperlichen so
gut wie von anderen — nach folgenden Bedingungen. 1. Daß sie nicht Träger
des Ausdrucks sind und daher individueller Gestaltung bedürfen; in der
Regel gilt das von der Nase, vom Auge hauptsächlich bei großen Künstlern,
die es wirklich zum Spiegel der Seele zu machen vermögen, während es
schwächeren Kräften leicht zu einer ständigen Form wird. 2. Daß sie nicht
die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn je mehr das der Fall ist, desto
mehr werden sie einerseits die individuelle Sorgfalt des Künstlers erfordern
und anderseits seinen Gefolgsleuten nachahmenswert erscheinen; dies gilt in
hohem Grade von den Details der Landschaftsbehandlung (Baumschlag,
Felsen, Wasser usw.), die die Spezialität eines Malers schienen und ganzen
Generationen späterer Maler als Schulvorlagen dienten. 3. Daß sie der Mode
nicht unterworfen sind, wie das für den Ausdruck des Mundes in den aller-
meisten, für den Charakter der Hände in vielen Zeiten gilt; denn der Mode-
mund und die Modehände werden den einer Generation angehörenden Künst-
lern mehr oder weniger gemeinsam sein. 4. Daß sie die Ausbildung von ab-
kürzenden Gepflogenheiten in der Ausführung fördern oder vielleicht fordern;
beim Haar z. B., wo eine getreue Wiedergabe des Einzelnen unmöglich und
daher eine Charakterisierung der ganzen Masse nötig ist, oder beim Ohr,
dessen komplizierte Struktur für den Gesamteindruck in der Regel gleich-
gültig ist, wird eine solche Ausbildung von Formeln ebenso leicht statt-
finden können wie etwa bei der Draperie, die ihr von innerer Beziehung zum
Dargestellten freies Faltenwerk zur Erzielung künstlerischer Wirkungen dar-
bietet. 5. Daß sie sich der Nachahmung und Nachbildung durch ihre Unauf-
dringlichkeit entziehen; dabei wird es sich nach dem Rang des Künstlers
richten, wie weit solche Eigenschaften im Dunkel bleiben können, bei einem
großen und charakteristischen Meister mögen auch scheinbar unbedeutende
Details die Aufmerksamkeit fesseln, während bei einem geringeren Maler nur
die Hauptzüge in Betracht kommen.
Diese fünf Bedingungen1) ergeben das Resultat, daß es gerade unbe-
deutende, der Aufmerksamkeit des Schaffenden und des Betrachtenden zu-
nächst entzogene Teile eines Kunstwerkes sind, die für das Studium der
individuellen Handschrift eines Künstlers zu beachten sind. Und diese
auf den ersten Blick paradoxal erscheinende Forderung, aus Ohrläppchen,
Fingernägeln und Faltenzügen das Ureigentliche einer persönlichen Schaffens-
weise erweisen zu sollen, mag den überaus heftigen Widerspruch erklären,
den die Lehre Morellis in ihren ersten Anfängen vielfach erregt hat; die
9 Berenson, a. a. O. S. 132.