Diese Zeitunc, crscheint täglich 2mal, mit-
Ausnahme der Tage nach dcn Sonn- und
Fciertagen. — Die Pränumeration beträgt
pro Quartal S Mark (mit Botenlohn für
Morgen- und Abend-Ausgabe 6 Mark). —
Auswärtige abonnieren bei den kaiserlichen
Postämtern und erhalten die Zeitung für
S Mark 7S Pf. pro Quartal.
Jnsertionen werden in der Zeitnngs-
Expedition, Münchenhofstrahe Nr. 2, von
morgcns 8 biS mittags 12 Uhr ange-
nowmen und die einfachc Petit-Zeile mit
20 Pfennigen berechnct. — Nur bei den bis
12 U»r mittags cingeliefertcn Annoncen ist
mitBestimmtheit aufAbdruck inden nächsten
Nummern zu rechnen. Das Belag-Exemplar
kostet 25 Pf.
LVV. K-mgsberg. Morgen-Ausgabe. Mw-°ch»°gust L88G.
Me Herdelveiger Inbeltage.
^^Es ist eine Woche der Feicr in ganz Deutschland, die am Montag
ihren Anfang genommen hat. Aus allen Gauen unseres weiten Vater-
landes. aus Süd, Nord, Ost und West sirömcn sie herbei, die alten
und jungcn Söhne der Wissensckaften, juveifreudige Dankbarkeit im
Herzen für die herrliche alina matar dort in der arüucn, bcrgigcn
Ncckarstadt —,
„Am Neckar und am Rhein, kein' and're kommt ihr gleich."
Sehnend lenkt sich ja schon immer der Blick des jungen deutschen
Studcnten nach dcn liederverherrlichlen Ufern des Neckarstromes,
wenn es gilt, die Stätten zu wählcn zur Erfüllung des jugendfrischen
Wissensstrcbens und eincs frohen Geiinsscs der Jugend. Heidelberg!
Wie eine Verküudung sonnigen Glücks, jubclvollen Schwclgens in
den Reizen eincr hvchbegnadcten Natur, weinfrohcr Scligkeit im
trautcn Frcundesbunde, aber auch wie eine Kunde idealisch hohen
geistigen Lebens und Ningens, so kliugt das Wort den Tausenden
von Jünglingen in Deutschland, die Jahr um Jahr, von den Bandcn
dcr Schule befreit, mit jugendkräftigem Drang hinausstreben, die ernste
Arbeit der Durchdringung der Wissenschaft nüt freiem, frohem Leben-
»enießen zu verbinden. Ein Jahr ihres akademischen Lebens dort,
in der schönen, heiteren und doch so ehrwürdigen Musenstadt
vcrlebcn zu können, gilt ihnen als eine Gnade des Himmels; und so
ist dcnn Heidclberg zu einer immer mit seliger Erinnerung umfahten
Jugendliebe Tausenden und Abertausenden in dcn deutschen Landen
gewordcn, die jetzt — ob mit von den Jahren geblcichten oder noch
jugeudlich gefärbten Locken — mit freudcleuchtenden Augen herbei-
eilen. der Geliebten, Seite an Seite, Hand in Hand mit alten gleich-
gestimmtcn, weithin zerstreut gewesenen Freunderi, an ihrem Ehrentage
des Dichters Wort zuzujubcln:
Nun grüß Dich Gott, Altheidelbergi
Laut rufen alle Glocken
Vom heil'gen Geist durch Thal und Bcrz
Mit jubelndem Frohlocken!
Aber Deutschland feiert noch in andcrem Geiste Hcidelbergs
Ehrenzeit. Die ehrwürdige und doÄ ewig junge Rupcrto-Carola ist
dis ältcste Hochschule in den Landen des heutigen Deutschen ReicheS,
ja, wenn man das Datum der Stiftungsurkunde (1356) znm entschei-
dmdcn Momente wählt, sogar die zweitälteste in Dcutschland und
Österreich-Ungarn.*) Sie trat, vvm Pfalzgrafen Ruprecht gestiftet, im
Jahre 1386 unter dem Rektorate des Marsilius vou Jnghen ins
Lebcu. Die Geschichte dcr Universität Heidelbcrg ist also zugleich auch
dje Geschichte dcs deutschcn Hochschulwcsens, des von den Univcrsi-
tätcn gcbildeten und auf die Nation übertragenen Gcisies und die
Fcier ihres halbtausendjährigen Bestehens die Feier zugleich der deut-
schen Wissenschaft und ihrer Wirkung auf Nation und Vaterland.
Dcr idcalc wissenschaftliche Strebcnsdrang des Deutschen war es,
dcr dem dcutschcn Namen auch in den Zeiten des tiefsten politischen
Verfalles im ganzen Umkrcise der Civilisation Achtnng und Geltung
*) Vor Heideiberg wurden gegründet die Univsrsitäten von Prag 1348
ünd Wien 136ä. Bon den jctzt im Deutfchen Reich bestehcnden Universitäten
sind die Gründungzepochen: Heidelberg 1386, Leipzig 1409, Rostock 1419,
Greifswalde 14S6, Freiburg i. Br. 1457, Tübingen 1477, Marburg 1527,
Königsberg 1544, Jena 15b8, Würzburg 1582, Gießen 1607, Straßburg
1621 wicber eröffnct 1872), Münster 1648, Kiel 1665, Halle 1694, Breslau
1702. Götüngen 1734, Erlangen 1743, Verlin 1810, Bonn 1818, München
1826 (vorher von 1472—1800 in Jngolstadt, dann bis 1826 in Landshut).
2?j Komtesse Anna.
Von Ernst Rcriieck.
(Fortsetzung.)
Sie verwüuschte den Tag, welcher den Jtaliener in ihre Nähe
geführt hotte rmd hätte doch um keinen Preis die nüt ihm verlcbten
Skiuidcn hingebeii mögen. Warum war sie deun eine Gräfiu? Warum
nicht cin eiiifaches Bürgerkmd? Daun dätte sie jctzt glücklich scin
könren. — Und warum haitc sie jemals jenes uiisiniüge Bkrsprechen
gcgeveu? Wie hatte ihr Vater, der sie doch licbte wie seinen Augapsel,
ihr ein so folgenschweres Wort abnedmeii könncn? — Hatte Gott
nicht das Weib jür den Manii geschaffen? Hatte er nicht die Ltcve
in die Menschciiherzeii gelcgt? Wer hatte denn die Unterschiede des
Ranges erfuiiden? Wer die Grenzen aufgestcllt, welche sie einengten?
Wariim tieß Gott cs zu, daß die Mcnschen sich selbst Gesetze machlen
und die seincn verwarfen? Oder gab es gar kcinen Gott? Herrschte
nur dcr bliude Zuiall übcr das Menschengeschlecht? Vielleicht! Wie
hätte soust so entsetzlich viel Narrheit in der Welt sein könncn. Wofür
wollte sie denn all ihr Glück aufopferii? Für cine Jdee, welche jetzt
gauz imd gar dcn erhabcnen Nimbus in ihren Augen ciugebüßt hatte.
Wenn er nun sort ging für immer und sie blieb allein zurück mit
bluteudcm Herzc», sollte sie sich daun nüt dem stolzen Gefühl trösten,
daß sie das Lebensglück zwcicr Mcnscben zerstört hatte um cincs
Grundsatzes^willen? Und warum ging er? Weil cr nicht seine Mutler
und seine schwester aufgeben koiinte, um vielleicht? sie zu erringcn,
Wäre sie das Kind cines schlichten Bürgers, er würde sie nüt sich
nehinen in sciii Hcimatland und als sem Wcib würde sie dort Gina
die Laune ihrer Biulter ertragen helfen; ader die Komtcsse der Seil-
tänzeriu als Tochter ziizuführen durfte er nicht wagen. Sie hatte
es ihm ja nur sclbst gesagt vor kaum einer Stunde, daß er rs nicht
durfte. Seit Wochen schon hatte sie auf einen günstigen Moment gc-
warlet, um ihm das zu sagen; sie hatte sich hunvertmal im Geist die
Worlc zurecht gelegt; warum denn war sie uun so aufgeregt. da sie
cndlich ausgespiochen waren? Häite er sich einmal vcrgessen und ihr
seine Liebe bekannt, sie hc-tte ihm nichl widerstehen iönnen, sie hätie
jede Thorhcit begangen, die cr verlangt hätte. Und doch, sie durfte
iiir Wort nicht brechen, darum mußte sie ihm sagen, so lange es noch
Zcit war. daß sie nie sein Weib werden könnte, Nie? Gab es denn
nicht doch nocb cine Möglichkeit? Wenn ihr Vater die Wahl billigte,
wer wollle sie dann hindern, ihm z» folgen? Doch der Gedanke war
Wahiisin»! Jhr Vater, der stvlze Aristokrat, sollte dcn Sohn eiuer
schaffte; er war es aber auch, der gerade Deulschkand zur Stätte der
Befreiung der Geister von dem erstickenden Banne der römischen
Hierarchie machte und so dem geistigen und politischen Leben Europas
einen neuen fruchtbaren Boden bereitcn half. Die deuischen Hoch-
schulen, die in vcr Zeit der Reformation in ihrer größten Mehrzahl
die Träger nnd Pflanzschulen des religiösen Umschwungs gemesen
sind, sie waren auch, durchpulst von dem idealen Streben nach Wahr-
heit und nach freier Bekenntnis der Wahrheit, die Träger und Pflanz-
schulen der Jdeeen des politischen Umschwungs und der nationalen
Wiedergedurt in den Zeiten, da die Staatcn Deutschlands noch tief im
Banne des despotischcn Systems und der territorialen Zerriffenheit
lebten. Das von manchen modcrnen Politikern hochmütig belächelte
„volitische Professorentum" hat trotzdem einen vornehmen Anteil an der
Ehreiistellung dcr deutschcn Nation im hentigen Staatenkonzert, und
die deutsche Geschichte wird die Namen zahlreicher deutscher Ge-
lchrten fernen Jahrhunderten übertragen und als ihr Verdienst die
Förderunz eines ideal freiheitlichen Gcistes und dcs nationalfreudigen
Einheilsgedankcns verzeichnen, die aus dcm Boden der volkstümlichen
Bildung, welche ja wiedcrum von den Universitäten bearbeitet und
genährt worden ist, kraftvolle, edle Früchte dcs nationalen, Politischen
und wirtschaftlichen Gedeihens hervortrieb-
Jn dicsem Wirken hat namentlich Heidelberg Dankwürdiges ge>
leiflet. Seine Hochschule hat die politische Bildung der älteren Ge-
neration ganz außerordentlich beeinflußt, indem sie in den politisch-
historischcn Wissenschaften an der freiheitlichcn Erziehung der Nation
wacker arbeitete zu einer Zeit, da in den Grohstaalen für diese Ge»
dankenrichtung kein Raum war. Die Heidelberger Universität hat aber
an dem Teil der nationalen Aufgaben, die in der Gründung dcs Reiches
ihre Verkörperung gefundcn habcn, verdienstvolle Männer und Thaten
aufzuweisen, und der Kaiscr spricht nur im Sinne der Nation, wenn er
den Kronprinzen beauftraat. es aiizuerkennen, was Heidelberg für
die Pflege des Gefnhls der geisügen Zusammengehörigkcit unter den
deutschen Stämmen geleistet habe. — Es sind vornehme Namen, die
in reicher Folge die Lisie der au-s diesrn Gebieten verdienten Hoch-
schullehrer Heidelbergs zu nennen hat, rmd sie und das begeisterte
Wirken ihrer Träger sind es, die neben der herrlichen örtlichen Lage
die hohe Anziehungskrast der alten Ncckarstadt auf die Jünger der
deutschen Wissenschaft entwickelt und die Nuperto-Carola zu einer
nationalen Hochschule von hohcr Bedeutung für das gerstige Leben
der ganzen Nation umgcschaffen haben. — Das sind die Ehren, von
denen der Dichtcr singt:
„Altheidelberg, Du seine, Du Stadt an Ehren reich."
Deffen gedenkt Deutschland in diesen Tagen, und indem es — per-
sönlich oder im Geiste — an dem Fcst des fünfhundcrtjährigen Be-
stehens der Heidelberger Universität teilnimmt, feicrt es dankbar das
Wirken der deutschen Wissenschaft überhaupt und dcren Verdienste
nicht nur um die gcistige, sondern auch um die staatspolitischc und
wirtschaftliche Gestaltung unseres nationalen Lebens.
Deutsches Meich.
K Berlin. 2. Aug. (Deutschland und China. Der Ru-
mor in der „Moskauer Zeitung") Der Londoner „Standard"
behauptet, daß die Reise des Marquis Tseng nach Deulschland
.hauptsächlich deshalb veranlaßt sci. um eine Erleichterung in dem
telegraphischen Vcrkehr von China durch Rußland und Deutschlaud
nach Westeuropa herbeizuführm. Für China soll dieselbe Vergünsti-
gung erzielt wcrden, die durch den deutsch-russischen Vertrag bcwerk-
SeiUänzerin als Gemahl seiner Tochtcr wtllkommen heißen? Thorheit!
Und ihn bitten, ihn durch Schmeicheln und überredungskimst dazu
bewegen? Es hätte wohl wenig Erfolg gehabt und widcrstrebte ihrem
Stolze auch zu sehr. Er sollte nicht sagen können: Jch habe doch
recht gehabt. Du bist zu schwach, um ein Versprechen zu haktcn.
Lieber wollte sie alles ertragen, als sich einer solchen Demütigung
aussetzen. Und wenn sie ihr Wort brach und ihrem Voter trotzte?
Dann würde sie verstoßen wcrden; wie schon ein Weib vor ibr wücde
sie für immer aus diesen Nämnen scheiden, im Zorn von den Menschen
fortgewiesen, die sie bis dahin allein gcliebt hcitte. Sich von ihrem
Bater zu treimen, der Gedanke hatle etwas Unmögliches. Mit welch
leidenschaftlicher Liebe sie an ihm hing, ider ihr Vater und Mutter
zugleich gewesen war, der sie geliebt und bchütet hatte wie sein kost-
barstes Besitztum, das empfand sic erst jetzt voll und ganz, als sie
sich die Möglichkeit ausmalle von ihm zu gehen für immcr. Es war
unmöglich, sie konnte ihm und sich das nicht anthim. So plötzlich wie
die trotzigcn Gedanken gekommen waren, so schnell schwanden sie
wieder. Nein, neiu! Sie mußte bleiben, sie mußte ihr Wort halten.
Es war doch nicht nur eine Jdee allein, für welche sie das Opfer
brmgen wollte. Jhr Vater und oie gute alte Großmuttcr sollten nicht
durch sie das einzige, lctzte verlieren, das ihiien das Sckicksal noch
gelassen hatte. Wenn sie ging, was würde ihnen bleiben? Und würde
sie auch in der Ferne glücklich sein können, wenn sie das Glück Lurch
Unrecht erkaufte? Würde sie überhaupt imstande sein, Lcn Mann,
wclchen sie liebte, glücklich zu machen? Würde sie, das verwöhnle
Kind eines vornehineii Hauscs, sich in den lescheidencn Verhältnissen
des Malers zurcchlfinden könuen?
Die Fragen stürmtcn auf sie ein, wirr durcheinander, ohne daß
sie auf alles cine Antwort finden konnte. Sie preßte die wild häm-
mernden Schläfen nur fester mit ihrcn Händen; ihr Kopf schinerzte
sie und ihr Herz klopfte, als wollte es zersprjiigen. Warum diese un-
glückselige Liebe? Warum? Hätte sie nicht einen andeni Mann
sinden können. dcr ihr cbenbürtig war. um ihm ihre Neigung zuzu-
wenden? Warum hotte es ihr gerade dieser Fremde angethan?
Sie spraug auf und eitte nitt hastigen Schrittcn dnrch das Znnmcr,
zerstreut blickte sie hinaus in den soniügen Frühlingstag. Der Schnee
war zum größten Teil geschmolzen, nur hiu und her hatte sich noch
em kleiner Rest erhalten. An soniügen Plätzchen blühten schon Schiiee-
glöckchen und Crokus und die Knospcn dcr Bäumc schimmerten so
goldig braim, als wenn Lie grünen Blättcr bald Laraus hervorbrechen
wollten. Wie oft hatte sie sich dieser ersteii Frühlingstage gcfrcnt!
Wie halle die Ahnung des kommenden Lenzcs stets ihr Hcrz gewcitet!
Heute wandte sie sich von dem Bildc draußen ad. Was sollten ihr die
stelligt worden ist, und zwar im Anschluß an die neue Linie, welche
die chinesische Regierung von Peking nach Kiakhta oder Maimatschin
zu bauen beabsichtigt. Wenn ein dahin zielendes Abkommen
zwischen China, Rußland und Deutschland getroffen werden
sollte, so würden fortan Depeschen zwischen China und England
nur halb so viel kosten wie bisher. Hier ist von cinem derarti-
gen Plan der chinesischen Regierung schlechterdings nichts bekannt.
Daß die Reise des Marquis Tseng damit keinesfalls im Zusammen-
hang steht, ergiebt sich aus der Thatsache, daß der chinesische Diplo-
mat während seines hiesigen Aufenthalts mit keinem Vertreter der
deutschen Post- und Telegraphenverwaltung in Berührung gekommcn
ist. Jm übrigen licgt es auf der Hand, daß derartigr Ver-
handlungen, wenn sie beabsichtigt wären. nur durch eine Vermittelung
des hier beglaubigten Vcrtreters Chinas gcsührt werden würdcn. —
Der vom osfiziösen Telegraphcn im Auszuge mitgeteilte Artikel des
Kalkowschen Blattcs, in welchem geradezu der Avschluß eines rujsisch-
sranzösischen Bündnisses empfohlen wird, findet hier zwar eine
gewisse Beachtung, man ist aber nicht geneigt, demselben eine that-
sächliche Bedentung beizumeffen oder gar an den bevorstehenden Ab«
schluß eines solcken Bündniffcs zu glauben. Man braucht nur daron
zu erinnern. daß weder die französische Republik augenblicklich eineu
Vertretcr in Petersburg hat, noch daß der Vertreter des Zaren zur
Zeit in Paris weilt, um Gewißheit zu erlangen, daß es fich dabei
nur um eine leere Drohung handelt. Wer damit geschreckt wcrdcu
soll, ist nicht recht ersichtlich. Der Katkowsche Artikel erschcint um s»
mehr als ein Lufthieb, da hier nach wie vor an der Überzeugung
festgehalten wird, daß Rußland vorläufig nicht daran denkt, sich vom
deutsch-österreichen Bündnisse zu trennen, und daß die Begegnunq des
Herrn von Giers mit dem Fürsten Bismarck trotz der wiederholteu
Verzögerung deunvch im Laufe dieses Monats ersolgen werde.
X Berlin, 2. Aug. sZur wirtschaftlichen Lage. Die evan-
gelische Kirche und die theologischen Professuren.j Die
umfangreichen Arbeiterentlassungen, die aus Wesifalen ge»
nieldct werdcn, sind eine überaus traurige Jllustration der Lage der
deutschen Jndustrie. Jn Dortmund ist 400 Arbeitern, in Bochum
sogar 600 Arbeitern auf einen Schlag gekündigt worden. Hier
hilft keine Beschönigung, keine vffiziöse Schönsärberei. AngesichtS
dieser nicderdrückenden Meldungen giebt rs nur das cine Ge-
fühl, daß irgend etwas in der deutschen Wirlschaftspolitik gründ-
lich verfahren ist und daß der Versuch, gutzumachen. waS ge-
fehlt worden, gar nicht schnell genug unternommen werden kann. Die
westfälische Eisenindustrie, das Rückgrat des gesamten vaterländische»
Erwerbslebens. krankt schwer, abcr zum Glück nicht unheilbar. Nur
darauf kommt es an, daß das Heilmittel bei Zeiten erkannt uud ge-
brauckt wird. Schon die Thronrede, mit welcher der Reichstag am
17. November v. I- eröffnet worden ist, hat warnend auf die
Gefahr der llberproduktion hingewiescn, und dieselbe Regierung, welche
sich stets als eifrigste Förderin der Jnteresscn dieser Jndustrie cr-
wiesen, hat sich zu wicderholten Malen genötigt gcschen, Front zu
machen gegen die Preiserhöhungen, die durch Kartelle der Groß-
industriellen den Staatskaffcn aufgelegt wurden. Sind doch sogar
unter der Herrschaft dcr „nationalen Wirtschaftspolitik" Bcstellnn-
gcn auf Waggons und, wenn wir nicht irren, auch auf Loko-
motiven, in das Ausland gegangen, weil die fremdländischen Kon-
kurrenten die einheimischen nüt beinahe unglaublichen Preisdifferenzeu
unterbieten konnten. Nun ist es ja richtig: lediglich aus übermut
haben unsere Fabrikanten sich gerade auch nicht zu ihren Kartellen zu-
sanimengethan, sondern sie sind dem Zwange der barten Not gefolgt.
sie mußten, um nur existiereu zu könncn, die Fundamente ihrer Jn-
dnstrie immer höher, luftiger und gebrechlicher bauen und sie selbst sind
vermutüch dic ersten gewesen, welche mit erschreckender Deutlichkeit
frühen Lenzhoffnungen? Der helle Sonnenschein that ihr weh; für
sie wurde es diesmal ja doch nicht Frühling.
Auf dem Tisch am Fenster lagen ihre Zeichnungen. Mechanisch
blätterte sie darin, öisweilen ein over das audere Blatt aujmerksamer
betrachtend. Bei diesem Kopf hatte er sie gclobt, bei jenem sie auf
die Fehler aufmerksam gemacht; in diesem freien Entwnrf hatte er
eiiüges vcrbessert. Wie sicher seine Striche waren! Sie wars das
Blatt hin und bcdeckte ihr Gesicht wieder mit den Händen Selbst
das war ihr geranbt, das frohe Vertrauen auf ihre Kraft, künstlerisch
schaffen zu können! Wie glücklich war sie in dem Tranm gewesen,
cinst eine Malerin zu werden! Wenn es auch eine Thvrheit war, es
h itte sie doch glücklich gemacht. Erst seit sie in ihm den großen,
schaffenden Künstlergenius erkannte, jühlte stc sich täglich kleiner und
schwächer in ihrer Kraft, frei zu gestalten. Sie konnte wohl Bilder.
welche ihren Geist beschäftigten, mit dem Stift zeichnen nnd hatte ost
viel Lob von Bernardi dafür geerntet, aber um etwas Großes zu
schaffen, sühlte sie nicht mehr die Kraft in sich. Sie war ja nur
ein Äeib.
Sie war wieder zu dem Scffcl zurückgckehrt und in die frühcre
Stellung versunken; so saß sie und grübelte. Am liebsten wäre sie
gestorben; Tod schien ihr die willkonimenste Erlösung zu sein. Die
Sonne war schon untergegangen und nur ein schwaches Dämmerlicht
füllte noch das Gemach. ohne daß sie den Wcchsel bemerkt h-ttte. Eiu
Klopfen an der Thür riß sie endlich aus ihrem Hinbrüten. Es war
Käthe. die um Einlatz bat und nach einigem Zögcrn öffnete Anna
cndlich.
„Was willst Du?" fragte sie ziemlich unfreundlich; „ich habe Kopf-
schmerzen und wollte allein bleiven-"
„Das ist nicht wahr. Änna. Kopfweh magst Du auch haben,
aber das ist nicht allcs. Wic entsetzlich bleich Du aussiehst! Nein,
nein, wende Dich nicht so ab. Liebling. Jch hielt es nicht längcr aus
vor Angst um Dich und mußte einmal nach Dir sehen."
Sie zog Anna trotz ihres Widerstrebens sanft mit sich ans Fenster
und blickie ihr prüsend in die Augen; daun legte sie zärtüch den Arm
um ihre Schulter und schmiegte sich an ste.
„Waium vertraust Du nür nicht mchr wie früher alles, was Dich
dedrückt?" frngte sie vorwurssvoll. „Jch sehs Dich leiden uud wciß
nur zu gut deu Grund, weshalb aber erleichtersi Du Dein Hcrz nicht
und läßt mich au Dcinem Kuwmer teilnehmen?"
„Laß mich. Jedcr trägt am besteii seine Sorgen allein. Daß sie
durch Mitteilcn kleiner werden, ist einc Thorheit; es bleibcn dicselben
Sorgen, dieselben Sckmerzcn, imr ma» cmpfiiidet sie noch tieser. wen»
Ausnahme der Tage nach dcn Sonn- und
Fciertagen. — Die Pränumeration beträgt
pro Quartal S Mark (mit Botenlohn für
Morgen- und Abend-Ausgabe 6 Mark). —
Auswärtige abonnieren bei den kaiserlichen
Postämtern und erhalten die Zeitung für
S Mark 7S Pf. pro Quartal.
Jnsertionen werden in der Zeitnngs-
Expedition, Münchenhofstrahe Nr. 2, von
morgcns 8 biS mittags 12 Uhr ange-
nowmen und die einfachc Petit-Zeile mit
20 Pfennigen berechnct. — Nur bei den bis
12 U»r mittags cingeliefertcn Annoncen ist
mitBestimmtheit aufAbdruck inden nächsten
Nummern zu rechnen. Das Belag-Exemplar
kostet 25 Pf.
LVV. K-mgsberg. Morgen-Ausgabe. Mw-°ch»°gust L88G.
Me Herdelveiger Inbeltage.
^^Es ist eine Woche der Feicr in ganz Deutschland, die am Montag
ihren Anfang genommen hat. Aus allen Gauen unseres weiten Vater-
landes. aus Süd, Nord, Ost und West sirömcn sie herbei, die alten
und jungcn Söhne der Wissensckaften, juveifreudige Dankbarkeit im
Herzen für die herrliche alina matar dort in der arüucn, bcrgigcn
Ncckarstadt —,
„Am Neckar und am Rhein, kein' and're kommt ihr gleich."
Sehnend lenkt sich ja schon immer der Blick des jungen deutschen
Studcnten nach dcn liederverherrlichlen Ufern des Neckarstromes,
wenn es gilt, die Stätten zu wählcn zur Erfüllung des jugendfrischen
Wissensstrcbens und eincs frohen Geiinsscs der Jugend. Heidelberg!
Wie eine Verküudung sonnigen Glücks, jubclvollen Schwclgens in
den Reizen eincr hvchbegnadcten Natur, weinfrohcr Scligkeit im
trautcn Frcundesbunde, aber auch wie eine Kunde idealisch hohen
geistigen Lebens und Ningens, so kliugt das Wort den Tausenden
von Jünglingen in Deutschland, die Jahr um Jahr, von den Bandcn
dcr Schule befreit, mit jugendkräftigem Drang hinausstreben, die ernste
Arbeit der Durchdringung der Wissenschaft nüt freiem, frohem Leben-
»enießen zu verbinden. Ein Jahr ihres akademischen Lebens dort,
in der schönen, heiteren und doch so ehrwürdigen Musenstadt
vcrlebcn zu können, gilt ihnen als eine Gnade des Himmels; und so
ist dcnn Heidclberg zu einer immer mit seliger Erinnerung umfahten
Jugendliebe Tausenden und Abertausenden in dcn deutschen Landen
gewordcn, die jetzt — ob mit von den Jahren geblcichten oder noch
jugeudlich gefärbten Locken — mit freudcleuchtenden Augen herbei-
eilen. der Geliebten, Seite an Seite, Hand in Hand mit alten gleich-
gestimmtcn, weithin zerstreut gewesenen Freunderi, an ihrem Ehrentage
des Dichters Wort zuzujubcln:
Nun grüß Dich Gott, Altheidelbergi
Laut rufen alle Glocken
Vom heil'gen Geist durch Thal und Bcrz
Mit jubelndem Frohlocken!
Aber Deutschland feiert noch in andcrem Geiste Hcidelbergs
Ehrenzeit. Die ehrwürdige und doÄ ewig junge Rupcrto-Carola ist
dis ältcste Hochschule in den Landen des heutigen Deutschen ReicheS,
ja, wenn man das Datum der Stiftungsurkunde (1356) znm entschei-
dmdcn Momente wählt, sogar die zweitälteste in Dcutschland und
Österreich-Ungarn.*) Sie trat, vvm Pfalzgrafen Ruprecht gestiftet, im
Jahre 1386 unter dem Rektorate des Marsilius vou Jnghen ins
Lebcu. Die Geschichte dcr Universität Heidelbcrg ist also zugleich auch
dje Geschichte dcs deutschcn Hochschulwcsens, des von den Univcrsi-
tätcn gcbildeten und auf die Nation übertragenen Gcisies und die
Fcier ihres halbtausendjährigen Bestehens die Feier zugleich der deut-
schen Wissenschaft und ihrer Wirkung auf Nation und Vaterland.
Dcr idcalc wissenschaftliche Strebcnsdrang des Deutschen war es,
dcr dem dcutschcn Namen auch in den Zeiten des tiefsten politischen
Verfalles im ganzen Umkrcise der Civilisation Achtnng und Geltung
*) Vor Heideiberg wurden gegründet die Univsrsitäten von Prag 1348
ünd Wien 136ä. Bon den jctzt im Deutfchen Reich bestehcnden Universitäten
sind die Gründungzepochen: Heidelberg 1386, Leipzig 1409, Rostock 1419,
Greifswalde 14S6, Freiburg i. Br. 1457, Tübingen 1477, Marburg 1527,
Königsberg 1544, Jena 15b8, Würzburg 1582, Gießen 1607, Straßburg
1621 wicber eröffnct 1872), Münster 1648, Kiel 1665, Halle 1694, Breslau
1702. Götüngen 1734, Erlangen 1743, Verlin 1810, Bonn 1818, München
1826 (vorher von 1472—1800 in Jngolstadt, dann bis 1826 in Landshut).
2?j Komtesse Anna.
Von Ernst Rcriieck.
(Fortsetzung.)
Sie verwüuschte den Tag, welcher den Jtaliener in ihre Nähe
geführt hotte rmd hätte doch um keinen Preis die nüt ihm verlcbten
Skiuidcn hingebeii mögen. Warum war sie deun eine Gräfiu? Warum
nicht cin eiiifaches Bürgerkmd? Daun dätte sie jctzt glücklich scin
könren. — Und warum haitc sie jemals jenes uiisiniüge Bkrsprechen
gcgeveu? Wie hatte ihr Vater, der sie doch licbte wie seinen Augapsel,
ihr ein so folgenschweres Wort abnedmeii könncn? — Hatte Gott
nicht das Weib jür den Manii geschaffen? Hatte er nicht die Ltcve
in die Menschciiherzeii gelcgt? Wer hatte denn die Unterschiede des
Ranges erfuiiden? Wer die Grenzen aufgestcllt, welche sie einengten?
Wariim tieß Gott cs zu, daß die Mcnschen sich selbst Gesetze machlen
und die seincn verwarfen? Oder gab es gar kcinen Gott? Herrschte
nur dcr bliude Zuiall übcr das Menschengeschlecht? Vielleicht! Wie
hätte soust so entsetzlich viel Narrheit in der Welt sein könncn. Wofür
wollte sie denn all ihr Glück aufopferii? Für cine Jdee, welche jetzt
gauz imd gar dcn erhabcnen Nimbus in ihren Augen ciugebüßt hatte.
Wenn er nun sort ging für immer und sie blieb allein zurück mit
bluteudcm Herzc», sollte sie sich daun nüt dem stolzen Gefühl trösten,
daß sie das Lebensglück zwcicr Mcnscben zerstört hatte um cincs
Grundsatzes^willen? Und warum ging er? Weil cr nicht seine Mutler
und seine schwester aufgeben koiinte, um vielleicht? sie zu erringcn,
Wäre sie das Kind cines schlichten Bürgers, er würde sie nüt sich
nehinen in sciii Hcimatland und als sem Wcib würde sie dort Gina
die Laune ihrer Biulter ertragen helfen; ader die Komtcsse der Seil-
tänzeriu als Tochter ziizuführen durfte er nicht wagen. Sie hatte
es ihm ja nur sclbst gesagt vor kaum einer Stunde, daß er rs nicht
durfte. Seit Wochen schon hatte sie auf einen günstigen Moment gc-
warlet, um ihm das zu sagen; sie hatte sich hunvertmal im Geist die
Worlc zurecht gelegt; warum denn war sie uun so aufgeregt. da sie
cndlich ausgespiochen waren? Häite er sich einmal vcrgessen und ihr
seine Liebe bekannt, sie hc-tte ihm nichl widerstehen iönnen, sie hätie
jede Thorhcit begangen, die cr verlangt hätte. Und doch, sie durfte
iiir Wort nicht brechen, darum mußte sie ihm sagen, so lange es noch
Zcit war. daß sie nie sein Weib werden könnte, Nie? Gab es denn
nicht doch nocb cine Möglichkeit? Wenn ihr Vater die Wahl billigte,
wer wollle sie dann hindern, ihm z» folgen? Doch der Gedanke war
Wahiisin»! Jhr Vater, der stvlze Aristokrat, sollte dcn Sohn eiuer
schaffte; er war es aber auch, der gerade Deulschkand zur Stätte der
Befreiung der Geister von dem erstickenden Banne der römischen
Hierarchie machte und so dem geistigen und politischen Leben Europas
einen neuen fruchtbaren Boden bereitcn half. Die deuischen Hoch-
schulen, die in vcr Zeit der Reformation in ihrer größten Mehrzahl
die Träger nnd Pflanzschulen des religiösen Umschwungs gemesen
sind, sie waren auch, durchpulst von dem idealen Streben nach Wahr-
heit und nach freier Bekenntnis der Wahrheit, die Träger und Pflanz-
schulen der Jdeeen des politischen Umschwungs und der nationalen
Wiedergedurt in den Zeiten, da die Staatcn Deutschlands noch tief im
Banne des despotischcn Systems und der territorialen Zerriffenheit
lebten. Das von manchen modcrnen Politikern hochmütig belächelte
„volitische Professorentum" hat trotzdem einen vornehmen Anteil an der
Ehreiistellung dcr deutschcn Nation im hentigen Staatenkonzert, und
die deutsche Geschichte wird die Namen zahlreicher deutscher Ge-
lchrten fernen Jahrhunderten übertragen und als ihr Verdienst die
Förderunz eines ideal freiheitlichen Gcistes und dcs nationalfreudigen
Einheilsgedankcns verzeichnen, die aus dcm Boden der volkstümlichen
Bildung, welche ja wiedcrum von den Universitäten bearbeitet und
genährt worden ist, kraftvolle, edle Früchte dcs nationalen, Politischen
und wirtschaftlichen Gedeihens hervortrieb-
Jn dicsem Wirken hat namentlich Heidelberg Dankwürdiges ge>
leiflet. Seine Hochschule hat die politische Bildung der älteren Ge-
neration ganz außerordentlich beeinflußt, indem sie in den politisch-
historischcn Wissenschaften an der freiheitlichcn Erziehung der Nation
wacker arbeitete zu einer Zeit, da in den Grohstaalen für diese Ge»
dankenrichtung kein Raum war. Die Heidelberger Universität hat aber
an dem Teil der nationalen Aufgaben, die in der Gründung dcs Reiches
ihre Verkörperung gefundcn habcn, verdienstvolle Männer und Thaten
aufzuweisen, und der Kaiscr spricht nur im Sinne der Nation, wenn er
den Kronprinzen beauftraat. es aiizuerkennen, was Heidelberg für
die Pflege des Gefnhls der geisügen Zusammengehörigkcit unter den
deutschen Stämmen geleistet habe. — Es sind vornehme Namen, die
in reicher Folge die Lisie der au-s diesrn Gebieten verdienten Hoch-
schullehrer Heidelbergs zu nennen hat, rmd sie und das begeisterte
Wirken ihrer Träger sind es, die neben der herrlichen örtlichen Lage
die hohe Anziehungskrast der alten Ncckarstadt auf die Jünger der
deutschen Wissenschaft entwickelt und die Nuperto-Carola zu einer
nationalen Hochschule von hohcr Bedeutung für das gerstige Leben
der ganzen Nation umgcschaffen haben. — Das sind die Ehren, von
denen der Dichtcr singt:
„Altheidelberg, Du seine, Du Stadt an Ehren reich."
Deffen gedenkt Deutschland in diesen Tagen, und indem es — per-
sönlich oder im Geiste — an dem Fcst des fünfhundcrtjährigen Be-
stehens der Heidelberger Universität teilnimmt, feicrt es dankbar das
Wirken der deutschen Wissenschaft überhaupt und dcren Verdienste
nicht nur um die gcistige, sondern auch um die staatspolitischc und
wirtschaftliche Gestaltung unseres nationalen Lebens.
Deutsches Meich.
K Berlin. 2. Aug. (Deutschland und China. Der Ru-
mor in der „Moskauer Zeitung") Der Londoner „Standard"
behauptet, daß die Reise des Marquis Tseng nach Deulschland
.hauptsächlich deshalb veranlaßt sci. um eine Erleichterung in dem
telegraphischen Vcrkehr von China durch Rußland und Deutschlaud
nach Westeuropa herbeizuführm. Für China soll dieselbe Vergünsti-
gung erzielt wcrden, die durch den deutsch-russischen Vertrag bcwerk-
SeiUänzerin als Gemahl seiner Tochtcr wtllkommen heißen? Thorheit!
Und ihn bitten, ihn durch Schmeicheln und überredungskimst dazu
bewegen? Es hätte wohl wenig Erfolg gehabt und widcrstrebte ihrem
Stolze auch zu sehr. Er sollte nicht sagen können: Jch habe doch
recht gehabt. Du bist zu schwach, um ein Versprechen zu haktcn.
Lieber wollte sie alles ertragen, als sich einer solchen Demütigung
aussetzen. Und wenn sie ihr Wort brach und ihrem Voter trotzte?
Dann würde sie verstoßen wcrden; wie schon ein Weib vor ibr wücde
sie für immer aus diesen Nämnen scheiden, im Zorn von den Menschen
fortgewiesen, die sie bis dahin allein gcliebt hcitte. Sich von ihrem
Bater zu treimen, der Gedanke hatle etwas Unmögliches. Mit welch
leidenschaftlicher Liebe sie an ihm hing, ider ihr Vater und Mutter
zugleich gewesen war, der sie geliebt und bchütet hatte wie sein kost-
barstes Besitztum, das empfand sic erst jetzt voll und ganz, als sie
sich die Möglichkeit ausmalle von ihm zu gehen für immcr. Es war
unmöglich, sie konnte ihm und sich das nicht anthim. So plötzlich wie
die trotzigcn Gedanken gekommen waren, so schnell schwanden sie
wieder. Nein, neiu! Sie mußte bleiben, sie mußte ihr Wort halten.
Es war doch nicht nur eine Jdee allein, für welche sie das Opfer
brmgen wollte. Jhr Vater und oie gute alte Großmuttcr sollten nicht
durch sie das einzige, lctzte verlieren, das ihiien das Sckicksal noch
gelassen hatte. Wenn sie ging, was würde ihnen bleiben? Und würde
sie auch in der Ferne glücklich sein können, wenn sie das Glück Lurch
Unrecht erkaufte? Würde sie überhaupt imstande sein, Lcn Mann,
wclchen sie liebte, glücklich zu machen? Würde sie, das verwöhnle
Kind eines vornehineii Hauscs, sich in den lescheidencn Verhältnissen
des Malers zurcchlfinden könuen?
Die Fragen stürmtcn auf sie ein, wirr durcheinander, ohne daß
sie auf alles cine Antwort finden konnte. Sie preßte die wild häm-
mernden Schläfen nur fester mit ihrcn Händen; ihr Kopf schinerzte
sie und ihr Herz klopfte, als wollte es zersprjiigen. Warum diese un-
glückselige Liebe? Warum? Hätte sie nicht einen andeni Mann
sinden können. dcr ihr cbenbürtig war. um ihm ihre Neigung zuzu-
wenden? Warum hotte es ihr gerade dieser Fremde angethan?
Sie spraug auf und eitte nitt hastigen Schrittcn dnrch das Znnmcr,
zerstreut blickte sie hinaus in den soniügen Frühlingstag. Der Schnee
war zum größten Teil geschmolzen, nur hiu und her hatte sich noch
em kleiner Rest erhalten. An soniügen Plätzchen blühten schon Schiiee-
glöckchen und Crokus und die Knospcn dcr Bäumc schimmerten so
goldig braim, als wenn Lie grünen Blättcr bald Laraus hervorbrechen
wollten. Wie oft hatte sie sich dieser ersteii Frühlingstage gcfrcnt!
Wie halle die Ahnung des kommenden Lenzcs stets ihr Hcrz gewcitet!
Heute wandte sie sich von dem Bildc draußen ad. Was sollten ihr die
stelligt worden ist, und zwar im Anschluß an die neue Linie, welche
die chinesische Regierung von Peking nach Kiakhta oder Maimatschin
zu bauen beabsichtigt. Wenn ein dahin zielendes Abkommen
zwischen China, Rußland und Deutschland getroffen werden
sollte, so würden fortan Depeschen zwischen China und England
nur halb so viel kosten wie bisher. Hier ist von cinem derarti-
gen Plan der chinesischen Regierung schlechterdings nichts bekannt.
Daß die Reise des Marquis Tseng damit keinesfalls im Zusammen-
hang steht, ergiebt sich aus der Thatsache, daß der chinesische Diplo-
mat während seines hiesigen Aufenthalts mit keinem Vertreter der
deutschen Post- und Telegraphenverwaltung in Berührung gekommcn
ist. Jm übrigen licgt es auf der Hand, daß derartigr Ver-
handlungen, wenn sie beabsichtigt wären. nur durch eine Vermittelung
des hier beglaubigten Vcrtreters Chinas gcsührt werden würdcn. —
Der vom osfiziösen Telegraphcn im Auszuge mitgeteilte Artikel des
Kalkowschen Blattcs, in welchem geradezu der Avschluß eines rujsisch-
sranzösischen Bündnisses empfohlen wird, findet hier zwar eine
gewisse Beachtung, man ist aber nicht geneigt, demselben eine that-
sächliche Bedentung beizumeffen oder gar an den bevorstehenden Ab«
schluß eines solcken Bündniffcs zu glauben. Man braucht nur daron
zu erinnern. daß weder die französische Republik augenblicklich eineu
Vertretcr in Petersburg hat, noch daß der Vertreter des Zaren zur
Zeit in Paris weilt, um Gewißheit zu erlangen, daß es fich dabei
nur um eine leere Drohung handelt. Wer damit geschreckt wcrdcu
soll, ist nicht recht ersichtlich. Der Katkowsche Artikel erschcint um s»
mehr als ein Lufthieb, da hier nach wie vor an der Überzeugung
festgehalten wird, daß Rußland vorläufig nicht daran denkt, sich vom
deutsch-österreichen Bündnisse zu trennen, und daß die Begegnunq des
Herrn von Giers mit dem Fürsten Bismarck trotz der wiederholteu
Verzögerung deunvch im Laufe dieses Monats ersolgen werde.
X Berlin, 2. Aug. sZur wirtschaftlichen Lage. Die evan-
gelische Kirche und die theologischen Professuren.j Die
umfangreichen Arbeiterentlassungen, die aus Wesifalen ge»
nieldct werdcn, sind eine überaus traurige Jllustration der Lage der
deutschen Jndustrie. Jn Dortmund ist 400 Arbeitern, in Bochum
sogar 600 Arbeitern auf einen Schlag gekündigt worden. Hier
hilft keine Beschönigung, keine vffiziöse Schönsärberei. AngesichtS
dieser nicderdrückenden Meldungen giebt rs nur das cine Ge-
fühl, daß irgend etwas in der deutschen Wirlschaftspolitik gründ-
lich verfahren ist und daß der Versuch, gutzumachen. waS ge-
fehlt worden, gar nicht schnell genug unternommen werden kann. Die
westfälische Eisenindustrie, das Rückgrat des gesamten vaterländische»
Erwerbslebens. krankt schwer, abcr zum Glück nicht unheilbar. Nur
darauf kommt es an, daß das Heilmittel bei Zeiten erkannt uud ge-
brauckt wird. Schon die Thronrede, mit welcher der Reichstag am
17. November v. I- eröffnet worden ist, hat warnend auf die
Gefahr der llberproduktion hingewiescn, und dieselbe Regierung, welche
sich stets als eifrigste Förderin der Jnteresscn dieser Jndustrie cr-
wiesen, hat sich zu wicderholten Malen genötigt gcschen, Front zu
machen gegen die Preiserhöhungen, die durch Kartelle der Groß-
industriellen den Staatskaffcn aufgelegt wurden. Sind doch sogar
unter der Herrschaft dcr „nationalen Wirtschaftspolitik" Bcstellnn-
gcn auf Waggons und, wenn wir nicht irren, auch auf Loko-
motiven, in das Ausland gegangen, weil die fremdländischen Kon-
kurrenten die einheimischen nüt beinahe unglaublichen Preisdifferenzeu
unterbieten konnten. Nun ist es ja richtig: lediglich aus übermut
haben unsere Fabrikanten sich gerade auch nicht zu ihren Kartellen zu-
sanimengethan, sondern sie sind dem Zwange der barten Not gefolgt.
sie mußten, um nur existiereu zu könncn, die Fundamente ihrer Jn-
dnstrie immer höher, luftiger und gebrechlicher bauen und sie selbst sind
vermutüch dic ersten gewesen, welche mit erschreckender Deutlichkeit
frühen Lenzhoffnungen? Der helle Sonnenschein that ihr weh; für
sie wurde es diesmal ja doch nicht Frühling.
Auf dem Tisch am Fenster lagen ihre Zeichnungen. Mechanisch
blätterte sie darin, öisweilen ein over das audere Blatt aujmerksamer
betrachtend. Bei diesem Kopf hatte er sie gclobt, bei jenem sie auf
die Fehler aufmerksam gemacht; in diesem freien Entwnrf hatte er
eiiüges vcrbessert. Wie sicher seine Striche waren! Sie wars das
Blatt hin und bcdeckte ihr Gesicht wieder mit den Händen Selbst
das war ihr geranbt, das frohe Vertrauen auf ihre Kraft, künstlerisch
schaffen zu können! Wie glücklich war sie in dem Tranm gewesen,
cinst eine Malerin zu werden! Wenn es auch eine Thvrheit war, es
h itte sie doch glücklich gemacht. Erst seit sie in ihm den großen,
schaffenden Künstlergenius erkannte, jühlte stc sich täglich kleiner und
schwächer in ihrer Kraft, frei zu gestalten. Sie konnte wohl Bilder.
welche ihren Geist beschäftigten, mit dem Stift zeichnen nnd hatte ost
viel Lob von Bernardi dafür geerntet, aber um etwas Großes zu
schaffen, sühlte sie nicht mehr die Kraft in sich. Sie war ja nur
ein Äeib.
Sie war wieder zu dem Scffcl zurückgckehrt und in die frühcre
Stellung versunken; so saß sie und grübelte. Am liebsten wäre sie
gestorben; Tod schien ihr die willkonimenste Erlösung zu sein. Die
Sonne war schon untergegangen und nur ein schwaches Dämmerlicht
füllte noch das Gemach. ohne daß sie den Wcchsel bemerkt h-ttte. Eiu
Klopfen an der Thür riß sie endlich aus ihrem Hinbrüten. Es war
Käthe. die um Einlatz bat und nach einigem Zögcrn öffnete Anna
cndlich.
„Was willst Du?" fragte sie ziemlich unfreundlich; „ich habe Kopf-
schmerzen und wollte allein bleiven-"
„Das ist nicht wahr. Änna. Kopfweh magst Du auch haben,
aber das ist nicht allcs. Wic entsetzlich bleich Du aussiehst! Nein,
nein, wende Dich nicht so ab. Liebling. Jch hielt es nicht längcr aus
vor Angst um Dich und mußte einmal nach Dir sehen."
Sie zog Anna trotz ihres Widerstrebens sanft mit sich ans Fenster
und blickie ihr prüsend in die Augen; daun legte sie zärtüch den Arm
um ihre Schulter und schmiegte sich an ste.
„Waium vertraust Du nür nicht mchr wie früher alles, was Dich
dedrückt?" frngte sie vorwurssvoll. „Jch sehs Dich leiden uud wciß
nur zu gut deu Grund, weshalb aber erleichtersi Du Dein Hcrz nicht
und läßt mich au Dcinem Kuwmer teilnehmen?"
„Laß mich. Jedcr trägt am besteii seine Sorgen allein. Daß sie
durch Mitteilcn kleiner werden, ist einc Thorheit; es bleibcn dicselben
Sorgen, dieselben Sckmerzcn, imr ma» cmpfiiidet sie noch tieser. wen»