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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Liebig, Clara: Die Kinder
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0098
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Die Kinder. Von Clara Viebig

alte Frau war ganz allein ge-
starken. Es war niemand bei
ihr gewesen. Als die Nachbarin
ihr, wie gewöhnlich am Morgen,
die Semmeln hereinreichen wollte und das
Töpfchen Milch, hatte sie sich auf das
Klopfen nicht gemeldet. Da hatte die
Nachbarin ihr Brot und Milch dicht an
die Türe gestellt — sie hatte keine Zeit,
die Kinder mußten zur Schule, Frau Leh-
rer würde schon, wenn sie wach wurde,
sich's hereinlangen. Aber die alte Frau
war nicht mehr aufgewacht. —
„So lag sie da," sagte die Nachbarin
zu Frau Rosa Paschke, der ältesten Tochter
der Verstorbenen, die zum Begräbnis aus
Berlin gekommen war, „so!" und versuchte,
ein Gesicht zu machen wie eine Heilige.
„So: die Hände auf der Brust gefaltet —
so — platt auf 'm Rücken. Ganz stille.
Unter der Nachtmütze waren die Haare
glattgestrichen, die Stirn war kein bißchen
kraus; 'nen Kampf muß sie weiter nich ge-
habt haben. Nur gefroren muß s'es haben.
Sie hatte sich aufgepackt, was irgend da
war; 's Federbett bis an die Nase gezogen
und auf die Füße ihr Cape gelegt, und en
Umschlagetuch, die Tischdecke und noch's
Sofakissen. Ach ja, sterben is nich schön!"
Die Nachbarin, deren Gesicht frisch und
rund war wie ein rotbackiger Apfel, stieß
einen Seufzer aus. Aber das Sterben
war ihr noch so weit; der Seufzer war
nur ein Gewohnheitsseufzer, wie man ihn
manchesmal ausstößt am Tage, wenn einem
etwas nicht so ganz paßt.
Und auch der Tochter war das Sterben
noch weit. Sie hatte einen Mann, der
sein anständiges Auskommen hatte, Kin-
der — noch kleine Kinder — war kern-
gesund, kein Zahn tat ihr weh, und wenn
ihr etwas schmerzlich war, so war es nur,
daß sie mitten aus einer großen Wäsche
weggemußt, die sie sich eingeweicht hatte.
Das Sterben kam ihr auch nicht näher,
als sie dann am Grabe stand, und der Sarg
der Mutter hinuntergelassen wurde in die
gähnende Grube. Es war recht frostig
und rauh, der Wind zerrte an den Kirch-
hofsbäumchen, die noch kahl standen, doch

sie hatte ja einen warmen Mantel an und
eine Pelzboa, es durchschauerte sie nicht.
Aber jetzt fröstelte es sie.
Rosa Paschke kramte in den Sachen der
Mutter. Sie hatte den Schrank aufgeschlos-
sen, die Kommode, auf Tisch und Stühlen
und Fensterbrett überall etwas ausgelegt.
Soviel alter Kram, soviel Plunder! Sie
wischte sich über die Stirn, sie schwitzte
plötzlich — ganz allein war die Mutter
gewesen in ihrer Sterbestunde! Ob sie
das wohl empfunden hatte?! Ach was,
die war ja ans Alleinsein gewöhnt! Sie
hätte vielleicht ein Mädchen finden können,
so ein halbwüchsiges, billiges Ding, ein
Kind aus der Nachbarschaft, aber sie war
eben eine eigene Frau, sagte die Nach-
barin.
Allein gestorben, ganz allein! Frau
Paschke sah sich in dem Zimmer der Mutter
um: es war gar nicht groß, eigentlich nur ein
kleines Stübchen, und nebenan die Küche
war auch nur winzig, aber doch war die Woh-
nung groß, vielzugroß. Sie war so leer. Die
Frau, an den Lärm ihrer Kinder gewöhnt,
lauschte unwillkürlich nach den Stimmen
der Kleinen. Ja, einsam hatte es die Mutter
gehabt! Es mußte nicht schön sein, wenn
man so ganz allein war. Ach ja, dann
lieber ein bißchen zu viel Arbeit und mal
ein bißchen Krach mit dem Mann und ein
bißchen Plackerei mit Erich und Egon, mit
Jlschen und Gretchen!
Sollte sie sich erkältet haben trotz des
dicken Mantels und der Pelzboa? Frau
Rosa rieb sich die Oberarme, es war ihr
wirklich sehr kalt. Gut, daß sie auf ihren
Mann gehört, der gesagt hatte: „Zieh dich
ja warm an. Da draußen in dem Nest ist
es nicht so wie hier in Berlin, da pusten
die Winde von den Feldern 'rein, und die
Mauern von den Häusern sind auch längst
nicht so dick. Daß du dich ja nicht er-
kältest!"
Ach ja, ihr Mann war gut und sehr auf
sie bedacht! Die Frau lächelte befriedigt:
sie hatte es gut getroffen. Aber gleich
darauf wurde ihr Gesicht wieder unbehag-
lich, fast verdrossen. Herrgott, da war ja
gar kein Durchfinden, wie sollte sie fertig
 
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