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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Viebig, Clara: Die Kinder
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0099

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Clara Viebig: Die Kinder LLÄLLSSÄLLLL 75

werden bis zum Abendzug — was Mutter
aber auch alles aufgehoben hatte!
Die Kommode war ganz gefüllt, jeder
Schub bis an den Rand. Da waren die
Hemden, die Beinkleider, die Nachtjacken,
die Strümpfe der alten Frau — alles nicht
mehr neu. Die Tochter, die jedes Stück
herausnahm und prüfend gegen's Licht
hielt, sah manches Loch, manchen Stopf,
manch dünne Stelle. Alles schon so ver-
tragen. Das hätte wirklich nicht mehr ge-
lohnt aufzuheben!
Aber das Schlimmste waren die Bündel
und Bündelchen, die eines neben dem an-
dern lagen, mit einem Endchen Band zu-
sammengebunden, und die man nun doch
aufwickeln mußte, um zu sehen, ob noch
etwas Brauchbares darin war. Rosa
Paschke hatte auf der einen Seite einen
Korb neben sich stehen, auf der anderen
eine Kiste. Hastig griff sie in den Schub:
schnell, in den Korb das, was nicht mehr
taugte, den Plunder. Mit dem anderen
'rein in die Kiste! Zu Hause konnte sie ja
dann noch einmal sortieren; jetzt nur schnell,
damit sie bald wegkam!
Eine Ungeduld war in der Frau, ein
Unbehagen. Was sollte sie noch hier in
der öden Wohnung, die ihr fremd war,
denn sie war seit Jahren nicht hier gewesen.
Seit vielen Jahren nicht. Die Mutter hatte
ja auch gar nicht um ihren Besuch gebeten,
und sie selber hatte auch kein Verlangen ge-
tragen; man war sich wirklich fremd ge-
worden im Laufe der Zeit. Nicht, daß
man sich böse gewesen wäre — o Gott be-
wahre, warum auch? — zu Weihnachten
hatte sie der Mutter immer etwas geschickt
und zum Geburtstag geschrieben. Aber sie
hatte eben Mann und Kinder, denen sie
unentbehrlich war, und wenn die Reise
auch nur vier Stunden dauerte, Geld kostete
sie eine ganze Menge, und das konnte man
nötiger brauchen. Und vorher war sie in
Stellung gewesen und konnte erst recht nicht
weg. Zum letztenmal war sie vor sieben
Jahren, noch als Mädchen, bei der Mutter
gewesen. Aber da wohnte die noch in der
alten Wohnung, in der sie früher mit dem
Vater gelebt hatte; da war's heimlicher.
Nun waren sie alle beide tot.
Die Tochter seufzte auf. Voran, voran
nur, daß sie fertig wurde! Ihre Hände
hatten gerastet.

Nun riß sie das erste Bündel auf. Ein
paar Windeln fielen auseinander, darin
ein paar kleine Hemdchen, ganz kleine
Hemdchen. Ei sieh mal! Mit einem Lächeln
hob die Frau die gegen's Licht: so was
kannte sie, die konnte man vielleicht noch
gebrauchen fürs nächste. Sie steckte die
beiden Zeigefinger durch die winzigen Är-
melchen: waren die vom langen Liegen
aber quittegelb, die kriegten nie mehr Grund.
Zu schlecht! Zum Plunder!
Sie wollte sie schon in den Korb werfen,
da sah sie ein Zettelchen, das daran steckte;
die Stecknadel war ganz braun verrostet.
,Windeln von meiner Rosa. Ihre ersten
Hemdchen/
Sie zögerte. Nein, die wollte sie denn
doch nicht wegwerfen. Ihre Hemdchen, —
ihre ersten Hemdchen! Ein Lächeln spielte
um den Mund der Frau. Das konnte sie
der Mutter wohl nachfühlen, daß man
vom Erstgeborenen sich etwas aufhebt.
Nun rasch das zweite Bündel! Wieder
Kleinkinderwäsche, wieder so vergilbt, und
mitten darin eingewickelt ein Paar Schüh-
chen, so verschätzt und abgenutzt, daß man
vom Leder kaum noch etwas sah.
,Von Wilhelm/
Was, von Wilhelm?! Oje, der Tauge-
nichts, was hatte der die Mutter für Trä-
nen gekostet. Der Lümmel! Mit bösen
Augen sah die Schwester die kleinen Schuhe
an; sie hatte sie sich auf die flache Hand
gestellt. Daß die Mutter von dem was
aufgehoben hatte — von dem?! Aber
freilich, damals als diese kleinen Schuhe
ihm paßten, da war er noch nicht der, der
er später gewesen war; da war er noch ein
niedliches Kind mit einem lieben Gesicht-
chen. Sie erinnerte sich des kleinen Bru-
ders plötzlich ganz genau.
Die Hand, die sich schon nach dem Plun-
derkorb ausgestreckt hatte, zog sich zurück.
„Meinetwegen," sagte Frau Paschke,
zuckte die Achseln und wickelte die kleinen
Schuhe wieder ein. Darin war er herum-
getrippelt, immer um die Mutter herum —
keinen Augenblick Ruh' — die Mutter hatte
viel Mühe mit ihm gehabt, er riß sie am
Rock, die Schürze zerrte er ihr vom Leibe.
Ein Unrast. Und so war er geblieben; bei
nichts hatte er ausgehalten. Erst lernte er
Kaufmann, dann war er bei einem Me-
chaniker, dann wieder beim Kaufmann;
 
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