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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 4 (Dezember 1913)
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Andreas-Salomé, Lou: Das Bündnis von Thor und Ur: aus dem Kinderleben
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Zech, Paul: Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0650

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540 Paul Zech: Weihnachten

„Sieh mal an, da hast du ja was Neues
gelernt!" Der Direktor blieb vor der
Straße stehen, in die er einbiegen mußte.
„Also wirst du nicht mehr nur verträumt
durch die Straßen gehen, wie ich dich im-
mer gehen sah. Vergiß es nur nicht und
laß es dir auch nicht leid sein, falls du hier
was verläßt!" Er gab ihr die Hand zum
Abschied. „Denn dies ist das beste An-
denken, was du von hier mitnehmen kannst
— besser als jedes sichtbarliche —"
Sie stand und sah zu ihm hinauf, in
dieses für Thor so wichtige Gesicht. Die
Kette krampfhaft in ihre Schürze gewickelt,
sah sie noch immer in die Luft, als er ihr
schon längst nicht mehr vor Augen war. —
Er war nach Hause gegangen.
Aber gar nicht weit von seiner Haustür
erblickte er auf der gegenüberliegenden
Seite Thorwald.
Da überschritt der Direktor den Fahr-
damm und ging auf ihn zu.
Thorwald zog die Mütze; er blieb war-
tend stehen. Wenn er auch schwänzte, dachte
er doch nicht daran, auszurücken.
Allein er hörte etwas ganz anderes als
die vorausgesetzte Rüge. Der Direktor
sagte nämlich: „Da ich dich treffe, möchte
ich dich was fragen. Du weißt, daß manch-
mal Sonntag nachmittag unser Primus mit
ein paar andern bei mir ist. Willst du
nicht auch kommen?"
In Thorwalds Gesicht, das stark errötet
war, blitzte und wetterleuchtete es. Er
konnte nicht so schnell Ruhe in seine Züge
kriegen und sich in den Übergang vom Er-
warteten ins Unerwartete finden.
Die große Schlange schien das gut zu
begreifen. Als sie nicht gleich ein: ,Jafl
bekam, ließ sie ihm Zeit, einzusehen, daß
sie keine gewesen sei.
Thorwald sah seinen Direktor geduldig

dastehen und mit dem Stock geometrische
Figuren aufs Trottoir zeichnen. Und wie
er endlich von dieser friedlichen Beschäfti-
gung aufschaute, sah Thorwald einen Blick
auf sich gerichtet, von dem es ihm schien,
als ob er in die Augen hinein und erst zum
Hinterkopf wieder herausfuhr.
Der Direktor merkte deutlich als Resul-
tat des kurzen, innern Kampfes, wie das
Jungengesicht vor ihm im Trotz starr zu
werden anfing.
„Junge, gib dir einen Ruck! Vertrauen
gegen Vertrauen!" sagte er rasch und hart.
Im gleichen Moment öffneten sich des
Jungen Augen in die seinen, rückhaltlos,
widerstandslos.
Und Thorwald nickte heftig.
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In der Pension wurde wirklich gepackt.
Aber obschon es dämmerte, konnte man
das kleine Mädchen flußwärts laufen sehen.
Sie wäre in einem Strich bis an die
Höhlenöffnung gelaufen. Jedoch kurz da-
vor , schon fast unten, machte sie zögernd
halt, weil, wider ihr Erwarten, jemand
am Flußufer auf und ab ging.
Das war niemand anders als Thor.
Unschlüssig stand sie. Was mochte er da
tun? Er ging, den Kopf gesenkt, in Ge-
danken oder Überlegungen und schaute nicht
auf. Und sie sah ihm lange zu. Lange.
Dann schlich sie sich doch leise, vorge-
beugt, sehr oft wieder stockend, bis an das
dichte Buschwerk um die Höhle, wo sie sich
zwischen dem dornigen Gestrüpp zu schaffen
machte. Und mit scheuen Händen nestelte
sie ihre Halskette hinein.
Während sie nach Hause rannte, ohne
sich umzusehen, blieben die weißen, hölzer-
nen Gebilde zwischen den unaufgeblühten
Zweigen hängen, daraus hervorleuchtend
wie seltsame, wilde Blumen.


Verschneite Fachwerkhäuser entsteigen
Mit vielen Lichtern dem trüben Grau.
Über Amboßruhe und Räderschweigen
Funkelt die große Sternbilderschau.

Weihnachten
Geläut schwillt hinüber wie Atemholen,
Und der Wind horcht herum.
Alle Kinder flüstern verstohlen,
Alle Mütter tun taub und stumm ...

Bis mit einem Male
Irgendwo eine verriegelte Türe springt,
Und die Welt wieder die alten Choräle
Der Weihnacht singt.
Paul Zech
 
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