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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Münzer, Kurt: Die Kurkapelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0121

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kleinen blassen Musikanten!
Wenn noch der Tau auf den
W^sen liegt, die Sonne gerade
die Waldhügel steigt, ver-
lassen sie schon die Bauernhäuser
weit draußen vor dem Badeörtchen, die arm-
seligen Instrumente unterm Arm, und eilen
den schönen breiten Weg hinan. Kastanien
werfen ihren lichten Morgenschatten, die Ler-
chen steigen aus dem Korn, Sensen klingen von
der Höhe, Glocken aus der Tiefe. Aber sie
schauen nicht auf. Bald ist es sechs Uhr,
und mit dem Schlag der Stunde muß der
Choral feierlich, getragen und voll aus dem
Pavillon tönen.
Mitten im Kurpark steht diese offene kleine
Rotunde, von Wein überwuchert, und da-
zwischen ein Glyzinenstamm, der späte blaue
Trauben an die hölzernen Arkaden hängt.
Der Park, schön und schattig, mit mancher
heimlichen Bank, einem winzigen Gondel-
teich, einer süßen Konditorei mit weißen
Stühlchen und Tischchen, ist noch leer.
Die ersten Frühaufsteher wandeln mit vol-
lem Brunnenglas durch die Rüsternallee,
und alle bleiben einen Augenblick stehen, als
der alte Choral aufklingt. So lind und licht
ist diese blaue, frische Morgenstunde, daß
man dem verstimmten Waldhorn alle Miß-
töne verzeiht. Die Bäume nur erschauern
wie empfindsame Wesen, und der Tau tröp-
felt von ihnen. Der erste blonde Backfisch,
der durch die Allee schlendert, hebt das junge
verschlafene Gesichtel und fängt das Naß auf.
Und während langsam die Wege sich
füllen und ein Zug angenehm Leidender die
Vrunnenhalle passiert, spielt das Orchester
von zwanzig oder dreißig Mann sein Reper-
toire herunter. Im Grunde ist es stets das-
selbe. Nie darf eine Suite von Wagner und
ein Operettenpotpourri fehlen, der letzte
Walzer und das älteste Salonstück folgen,
und ehe ein Marsch den Schluß macht, gibt
es no ch eine Opernphantasie und ein Charakter-
stück. Ach, wie klagen diese billigen Geigen,
wie schwindsüchtig pfeifen die Klarinetten
und Flöten, das Piston heult manchmal
wie ein musikalischer Hund, und wenn die
Trompeter voll Luft nehmen, ertrinkt Tra-
viata, ertrinken Toska und Sieglinde in die-
sem Tonmeer.
Eine Schar blasser junger Männer sitzt da
fröstelnd vor den Pulten. Ein paar von ihnen
sind Einheimische, die mit ihrem bißchen Musik
einen kleinen Sommerverdienst haben; aber
die meisten sind zusammengeholt aus der
und jener Stadt, aus Musikerbörsen, von
kleinen Agenten. Sie bekommen gerade so-
viel, daß sie leben können. Nur zwei sind
da, die künstlerisch und materiell das Orchester
überstrahlen. Der erste Violinist, der Konzert-

meister, der den Künstler unter den Philistern
markiert, der in freiwilliger Einsamkeit ein
geheimnisvolles Leben führt, dessen schwarze
Krawatte flattert, während er das süße Solo
im „Waldweben" spielt. Und der Kapell-
meister !
Ja, der Kapellmeister, von wunderbar
rätselvoller Herkunft, jung und schön, Augen
wie Flammen, nicht blaß, sondern bleich,
nicht mager, sondern schlank, immer ein
wenig müde, verachtungsvoll seine Truppe
dirigierend, bisweilen sich vergessend und
über alles hinweg sehnsuchtsvolle Blicke ins
ungemessen Ferne sendend. Er wird ge-
liebt. Er ist die Sensation, das Geheimnis,
der Götze des Badeörtchens.
In diesen kleinen Bädern, die in grünen
Tälchen zwischen Waldhügeln liegen und mit
einer harmlosen Quelle oder auch nur dem
Ozongehalt ihrer Waldluft bescheidene Re-
klame machen, ist die Kurkapelle das, womit
der Besuch des Örtchens steht und fällt.
Daß bisweilen ein Theatertrüpplein im
Hotel zum Stern spielt, würde den anspruchs-
vollen Herrschaften nicht genügen. Man will
früh, nachmittags, oft noch abends sein
Konzert haben. Denn das Publikum, das
hier einen Monat Trinkkuren und Waldluft
absolviert, ist ein ganz absonderliches. Weiß
Gott, es hat nichts mit dem von Wiesbaden,
Nauheim und Franzensbad gemein. Es ist
noch ganz Provinz. Das eigene Ländchen
entsendet seine Kranken an den Heilquell,
vielleicht verirrt sich mal ein Berliner dahin
oder gar ein Ausländer. Aber sonst, sonst
gibt es hier noch echte, alte Hausfrauen, liebe,
entzückende Provinzdamen, unverstandene
Frauen, die in Romanen Zuflucht finden, aber
noch nicht bei lebenden Helden, und Backfische,
richtige junge Mädels in Waschkleidern und
mit Hängezöpfchen. Das männliche Element
ist schwach und gänzlich interesselos vertreten,
einige Väter, einige solide Gatten und,
wenn es das Glück will, neben den kleinen
Geschwistern ein großer Bruder, Primaner,
vielleicht gar Student, vielleicht auch nur
Kommis.
Aber im übrigen ist der Musikpavillon
der männliche Distrikt in diesem Frauenreich.
In ihm warten Götter und Helden auf Blicke
und Gesten, von ihm geht der einzige Zau-
ber des Geheimnisvollen und Begehrens-
werten aus. Und alle, die schon und noch
ein Recht auf Liebe haben, sitzen immer in
seiner nächsten Nähe und scheinen hingegeben
zu lauschen, während sie doch nichts tun, als
dem müden Auf und Ab der bleichen
Kapellmeisterhände folgen und dem Bogen-
strich des Konzertmeisters, der, ein ewig ge-
kränkter Künstler, aus tiefster Einsamkeit
heraus auf die unverstandene Frau hinabblickt.
 
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