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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

DOI issue:
Heft 4 (Dezember 1913)
DOI article:
Delle Grazie, Marie Eugenie: Frau Gertys Saison, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0671

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Frau Gertys Saison
Von M. E. delle Grazie

Frau Gerty stand am Fenster und sah
gelangweilt in das Treiben der Flocken
hinaus. Daß dieser Schnee kein Ende
nahm, nun schon zwei Tage lang! Und
mit ihm der Sturm, der die Flocken in
endlosem Wirbel vor sich herjagte. Ganze
Wolken seiner weißschimmernden Last hin-
gen in den Bäumen des Vorgartens, und
rechts und links vom Bürgersteig hatten
ihn die Straßenfeger zu hohen Wällen
aufgetürmt. Vormittags hatte man noch
die Signale der Straßenbahn herüber-
gehört. Nun waren auch sie verstummt.
Wie verschlungen alles von diesem weißen,
endlosen Schweigen . . .
,Das Theater ist mir noch nicht ge-
stattet/ dachte Frau Gerty. ,Und im
Konzertsaal müßt'ich auch noch in Schwarz
erscheinen. Die Jours vor Weihnachten
sind endlos langweilig, und ein Shopping
im Wagen hat keinen Sinn/ Da hieß es,
mal wieder zu Hause bleiben. Und wie
hatte sie sich gefreut auf diese frischen,
lustigen Trippelgänge von Laden zu Laden!
Stück für Stück der neuen Garderobe war
bereits voraus entworfen. Von dem wei-
ßen Tea-gown la bis zu dem
silbergrauen Trotteurkleid und der dom-
herrnfarbenen Velvettoilette. Die Herme-
linstola aus der Kärtner Straße baumelte
schon lang' in ihre Träume hinein, und
schließlich mußte man auch langsam an
diejenigen denken, denen man zu bescheren
hatte.
Ob sie nicht doch einen Wagen holen
ließ? Aber nein, es hatte ja so gar keinen
Sinn, dieses ewige Aus- und Einsteigen
und — Nichtgesehenwerden.
,Bleibt die Zeitung und das Modejour-
nal/ dachte sie gähnend. ,Und der ganze
lange Abend/
Wahrhaftig, sie wußte nun, was es
hieß, ein Jahr lang die trauernde Witwe
spielen zu müssen. Weil es die gute Sitte
so heischte und — nun ja, und das große
Erbe. Sie aber hatte eine ganze Saison
darüber verloren und war neunundzwan-
zig Jahre alt geworden.
Velhagen <L Klasings Monatshefte. XXVIII. Jahrg. 1913/1914. I. Bd. 36

er Teekessel summte, daß es ein
Vergnügen war... Ms wollt'
er zu plauschen anfangen/ dachte
Fräulein Marianne, die Zofe,
,weil es heute gar so still ist bei uns/
Fräulein Marianne natürlich war viel zu
wohlerzogen, um das Schweigen zu stören,
das ihre schöne Herrin beliebte. Zuweilen
mußte man auch die Launen der Gnädigen
estimieren. So oft sie aber erwog, daß
ihre Gnädige noch am späten Nachmittag
in der Matinee stak und so gar keine Miene
machte, an das zu denken, was „fair" war,
kam ihr auch dieses Schweigen etwas un-
heimlich vor.
Die Matinee war wohl äußerst schick.
Lila Crepe de chine, ganz auf Satin Li-
berty gearbeitet. Dazu der bizarre Robes-
pierrekragen mit den echten „Clunys".
Fräulein Marianne begriff sehr wohl, daß
man sich einen ganzen Tag darin gefallen
konnte. Wenn man einen so tadellosen
Teint hatte, wie Frau Gerty Gutjahr und
dieses aparte Blond der Haare, dessen sil-
berne Reflexe wie eine letzte Abtönung des
blassen Lila schimmerten.
So weit konnte auch Fräulein Marianne
das Unmögliche verstehen. Nur, wie ge-
sagt . . . dieses Lila und dieses — Schwei-
gen? Es war auf jeden Fall eine neue
Pose. Und Fräulein Marianne war noch
nicht recht klar, welche Stellung sie dabei
zu markieren hatte.
Fürs erste bemühte sie sich, so geräusch-
los als möglich ihre Pflicht zu erfüllen.
Fast unhörbar rückte sie all die blitzenden
Karaffen und Schüsselchen zurecht, horchte
aufs neue nach dem Teekessel hinüber, des-
sen behagliches Summen allmählich in
ein wichtiges Gebrodel überging, warf
einen nachdenklichen Blick in die singenden
Gasflammen des Kamins und war schon
unendlich neugierig, was ihre Gnädige
sagen würde, wenn sie endlich, endlich das
erlösende — „Es ist serviert!" sprechen
durfte.
Denn dieses Schweigen und dieses Lila!—
K R R
 
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