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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 2 (Oktober 1913)
DOI article:
Hart, Hans: Wunderkinder [2]: Roman : (Fortsetzung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0309

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Wunderkinder
Roman von Hans Hart
(Fortsetzung)



arme Miriam, die immer
länger und dürrer wurde, be-
handelte Karl Maria in diesem
Herbst sehr schlecht, trotzdem
sie in ihrer kindischen Verzweiflung ge-
fügiger war als sonst und ihre hübschen
schwarzen Augen oft um ein gutes Wort
bettelten. Ihr großer Schmerz war es
jetzt, daß man ihr in einem Tierballett
die Rolle eines Storches zugewiesen hatte.
Diese offenkundige Heimtücke des Ballett-
meisters kostete sie viele Tränen und manche
schlaflose Nacht. Sie warf sich auf den
Boden, schluchzte und strampelte mit den
Beinen, und Frau Charlottens kräftige
Hand mußte oft energisch Ordnung schaffen.
Eines Tages fand Karl Maria sie in
dem Gärtlein. Sie saß auf der Bank unter
der goldgelben Linde, hielt ein flaches, rotes
Plüschetui auf den Knien und war emsig
mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Sie
hatte ganz heiße Wangen und schabte und
feilte, daß es eine Art hatte.
„Was machst du denn?"
Sie blickte kurz auf, zog ein trotziges
Gesicht und antwortete schnippisch: „Ich
pflege meine Hände."
Karl Maria lächelte überlegen. Die
Mutter pflegte jeden Morgen seine Nägel,
weil ein Geiger feine Finger haben mußte,
aber soviel Kram, wie die Miriam da in
ihrer Schachtel hatte, war einfach lächer-
lich. Mit dem Waschen nahm sie's wohl
nicht so genau. „Du hast aber schmutzige
Ohren, Miriam," sagte er gemütsroh.
Sie ward dunkelrot und stammelte: „Es
kommt doch nur auf die Nägel an." Karl
Maria lachte hell auf. Plötzlich warf Mi-
riam die schönen neuen Werkzeuge acht-
los in den Sand, schlenderte scheinbar
harmlos von der Bank weg, bückte sich
nach einem Haufen welken Laubes und
warf dem Knaben eine Handvoll goldener
Lindenblätter ins Gesicht. Flugs antwor-
tete er mit gleicher Münze. Sie sprangen
einander nach, haschten sich und warfen
sich abwechselnd ins raschelnde Laub. Auf

einmal waren sie wieder gute Freunde, wie
ehedem. Und Karl Maria stellte nach und
nach die Morgenpromenade am Wasser-
turm ein. Er hatte plötzlich zu wenig Zeit
dazu.
Miriam aber ritt ein neues Stecken-
pferd. Sie begann zu singen. Überall, im
Garten und im Hause, selbst auf der Gasse,
so daß alte, ehrwürdige Leute ganz sonder-
bar die Köpfe schüttelten. Frau Charlotte
wußte kaum mehr, ob sie schelten oder das
neue Talent ihres Goldkindes bewundern
sollte. Denn seltsamerweise ward das
kleine Stimmlein immer Heller und reiner,
je täppischer und reizloser der Mädchen-
körper aufschoß. Offenbar hatte die Natur
Mitleid und wollte der Miriam ein Ge-
schenk geben für ihre arge Häßlichkeit,
unter der sie so litt.
„Kann ich's nicht gut, ich armseliger
Storch?" schrie sie triumphierend und
verschluckte ein paar Tränlein. Und mit
Heller Stimme sang sie darauf los:
„Storch, Storch, Langbein,
Wann fliegst du ins Land herein.
Bringst dem Kind ein Brüderlein?
Wenn der Roggen reifet,
Wenn der Frosch pfeifet,
Wenn die goldnen Ringen
In der Kiste klingen,
Wenn die roten Appeln,
In der Kiste rappeln."
Manchmal kam sie hochrot heim und
flüsterte Karl Maria zu: „Heute hab' ich
wieder der Ermattinger vorgesungen. Die
hat Augen gemacht, hui!" Oft saß sie ganz
allein im Garten, dem die Herbststürme
den letzten bunten Schmuck raubten, fal-
tete die Hände und bat ganz leise: „Wenn
ich schon so häßlich bleiben muß, lieber
Gott, laß mich wenigstens sehr berühmt
werden." So trieb sie ihr seltsames Wesen
zwischen Lachen und Weinen.
Karl Maria zeigte geringes Verständnis
für Miriams wetterwendische Art. Er
hatte an jenem Septembernachmittag einen
Blick in eine andere, buntere Welt getan und
kam davon nicht los. Errechnete sich schon
 
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