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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 3 (November 1913)
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Torge, Else: Der Kandidat: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0543

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Der Kandidat. Skizze von Else Torge

kalter Wintertag in Berlin!
In den Hauptgeschäftsstraßen
sind Abend und Kälte fast ver-
drängt von der Fülle des Lichts,
das an beiden Straßenseiten bis hoch hin-
auf aus den mächtigen Glasscheiben der
Häuserfronten bricht. Der Asphalt ist
blank gekehrt, und die Menschenmenge, die
sich rechts und links in entgegengesetztem
Strome vorwärts schiebt, und die Straßen-
bahnen, Wagen, Omnibusse, die dazwischen
klingelnd und polternd aneinander vorüber-
drängen — all das scheint einen eigenen
Dunstkreis von Heller Wärme um sich her-
um zu haben, und hinauf, wo sich der flim-
mernde Glast langsam im Dunkel verglimmt
und über den letzten funkensprühenden
Reklamen das Schweigen und die wach-
sende Kälte thronen, verliert sich kein Blick
der unten Hastenden.
Aber eng um diese Hellen, lärmenden
Straßen geschmiegt, die wie gleißende Adern
die nächtige Stadt durchpulsen, liegt ein
Netz unzähliger stillerer Häuserreihen und
verschlafener Plätze, in denen die bläulich-
weiße Winterdämmerung wie ein kalter
Nebel schwimmt, darein die Flammen der
Straßenlaternen wie zitronengelbe Pünkt-
chen gesät sind, und darüber hoch, hoch von
den fernsten, weißgeränderten Dachfirsten
her aufsteigend, sich die rosig überlohte,
dunkelnde Himmelskuppel spannt.
Irgendwo in einer solchen schläfrigen
Ecke, zwischen spärlichen Fußgängern, die
eilig und zugeknöpft, dampfenden Atem
vor sich hertreibend, über einen kleinen
Platz kreuzen, schlurft ein einsamer Penn-
bruder mißlaunig einher.
Er weiß noch nicht, wo er heute schlafen
wird, obwohl es bedenklich in den Abend
geht. Indessen die „Palme" oder die
„Wiesenburg" winken als letzte Zuflucht
für die Nacht auch später noch mit nicht
viel mehr als Wärme in dumpfem, von ver-
kommenem Menschenvolk erfülltem Raum,
denn der Kump Suppe, an dem schließlich
auch die Wärme das Beste ist, wird ver-
salzt durch ein frommes Traktätchen.
Stumpf tritt er von einem Fuß auf den
anderen, scharrt an einem schmutzigen Häuf-
Velhagen <L Klastngs Monatshefte, xxvm. I,

chen Schnee, das da am Wege zusammen-
gekehrt liegt, wischt sich mit dem Ärmel
einen Tropfen von der blaurot glitzernden
Nase und glupscht verschlafen an den Häuser-
reihen entlang.
So drückt er sich langsam in der Runde
herum, als er nahe vor sich eine der kleinen,
alten, kapellenartigen Kirchen sieht und
merkt, daß die hohen, schmalen Fenster hell
erleuchtet sind und Licht in allen Fugen
und Ritzen der schweren Eichentüre steckt.
Er glotzt und sucht das Licht in der
Kirche mit der Tatsache, daß es Donners-
tag und nicht Sonntag ist, zu vereinen —
kommt aber nicht so weit!
Dafür überzieht langsam ein pfiffig-
freches Grinsen wie ein Erwachen das
eingefallene Gesicht, in dem die schwarz-
grauen Bartstoppeln steil und starr wie
Dornen stehen. Die Fäuste in den Taschen
der lodderigen Hose, schlurft er näher,
stemmt eine Schulter lässig gegen die Türe,
schiebt sich gemächlich durch den aufklaffen-
den Spalt und steht hinter einem roten
Filzvorhang in molliger Wärme.
Den Kopf voran, drängt er sich vorsich-
tig weiter in den runden, Hellen Raum
hinein.
Eine laute Stimme schallt ihm ent-
gegen —
Er weiß nicht gleich, woher sie kommt,
glotzt an den runden, weißen Wänden ent-
lang bis hinauf zur mächtigen Kuppel und
betrachtet die beiden weiten Nischen auf
der Empore, zwischen denen er die braun-
glänzende Kanzel entdeckt.
Nun hat er ihn, den blassen Kandidaten,
der eifrig predigend über dem Kerzenschein
des Altars ein schmächtiges Gesicht herab-
neigt und dessen Stimme, getragen von
der goldig-schimmernden, warmen Luft,
die alle Dinge weich umschmiegt, inbrünstig
bis in alle Ecken und Winkel hineinschwingt.
Drei, vier alte Weiblein in schwarzen
Kapuzen oder altmodischen Kapottehütchen
und unförmig dicken Mänteln sitzen da und
dort im Halbschlummer wohlig in den
Bänken. Vor ihnen die unbewegliche Ge-
stalt einer müde gelaufenen Gemeinde-
schwester, während abseits zwei Brillen-
hrg. 1913/1914. I. Bd. 29
 
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