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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 2 (Oktober 1913)
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Neues vom Büchertisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0377

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G Neues vom Büchertisch K
Von EarlVusso
Arthur Schnitzler, Frau Beate und ihr Sohn (Berlin, S. Fischer) — Otto von
Leitgeb, Das Hohelied (Berlin, E. Fleische! L Co.) — Hermann Stegemann,
Ewig still (Ebenda) — Wilhelm Hegeler, Eros (Ebenda) — Hermann Stehr,
Geschichten aus dem Mandelhaus (Berlin, S. Fischer) — E. von Handel-
Mazzetti, Brüderlein und Schwesterlein (Kempten, Jos. Kösel) — Helene von
Mühlau, Hamtiegel (Berlin, E. Fleische! L Co.)

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ls Hermann Bahr vor fünfund-
zwanzig Jahren noch gelenkiger
am Trapez des Geistes turnte
und statt der bisherigen „interes-
santen Witwen" von den Dichtern
„ein paar gebrauchte Kellnerinnen und einen
bescheidenen Trunkenbold" verlangte, schrie
er tagtäglich, wie der Hirsch nach frischem
Wasser schreit, nach der „neuen Psychologie".
Er suchte sie in der ganzen deutschen Lite-
ratur vergeblich und mußte sich entschließen,
die Lücke selber zu füllen. So entstand
sein Roman „Die gute Schule", der heut
im literarischen Raritäten- und Mißgebur-
tenkabinett einen hervorragenden Platz ein-
nimmt. Zum Glück überwand der mit
der Stirnlocke geschmückte Österreicher seine
eigenen Offenbarungen mit reißender Ge-
schwindigkeit; was ihm selber vorbeigelungen
war, schien anderen zu gelingen; mit Be-
geisterung entdeckte er die neue Psychologie
bei Arthur Schnitzler und Hugo von Hof-
mannsthal, und da es in seiner tempera-
mentvollen Art lag, aus jedem Windlicht
im ersten Augenblick eine ewige Sonne zu
machen, so erklärte er, das Auftreten der
beiden jungen Wiener bedeute einen Wende-
punkt unserer Kultur. Wenn er einmal
seine kritischen Abhandlungen in einer zehn-
bändigen Gesamtausgabe erscheinen läßt, so
wird das der reinste Zentralfriedhof für
Eintagswahrheiten sein. Immerhin aber
ein sehr apart angelegter und hübsch be-
pflanzter.
Das Wort von der „neuen Psychologie"
summte mir in den Ohren, während ich
Arthur Schnitzlers jüngstes Buch las:
„Frau Beate und ihr Sohn" (Berlin
1913, S. Fischer). Eine Novelle, die in ir-
gendeiner eleganten Sommerfrische bei
Ischl spielt und dorthin ein paar Leute
aus weicher Wiener Phäakenluft verpflanzt.
Leute aus Kreisen, wie sie Arthur Schnitzler
zu schildern liebt: gebildetes, wohlhabendes,
etwas jüdisch durchsetztes und künstlerisch
angehauchtes Bürgertum, das den engen
Schranken der alten Dogmen und Sitten-
gesetze entlief, ohne doch in sich selbst einen
sicheren Halt zu haben, so daß es bei schweren
Konflikten kopflos und schwächlich um die
Ecke geht. Diese Menschen können sich um so
leichter und ausschließlicher ihren Stim-


mungen, Gefühlsverirrungen und differen-
zierten Luxusempfindungen überlassen, als
sie durch ihr Vermögen von vornherein den
Notwendigkeiten des Erwerbs und dem
harten Gesetz des Pflichtlebens entrückt sind.
Man glaubt es gar nicht, wieviel Probleme
der jungwiener Schule überhaupt nur unter
der Voraussetzung eines reichlichen Bank-
guthabens möglich sind.
Darf man Schnitzlers Bühnenwerke als
dramatisierte Novellen ansprechen, so pro-
fitieren seine Novellen von der strengen dra-
matischen Technik. Mit welch überlegter
und überlegener Kunst wird hier im An-
fangskapitel des neuen Buches die Exposition
gegeben! Erst im Rückblick übersieht man
völlig, wie klug und zahlreich von vornherein
die vorbereitenden Einschläge sind, wie wohl-
bedacht auch die scheinbar nebensächlichen
Züge sich später dem allgemeinen Plan ein-
ordnen! Frau Beate Heinold, ungefähr la
ktzrnintz äe HuarLMts an8, die noch schöne
Witwe eines berühmten Schauspielers, ist
in Sorge um ihren gerade flügge werdenden
einzigen Sohn. Eine schlecht berufene frü-
here Schauspielerin zieht ihn in ihre Netze, zum
erstenmal verschließt er sich vor der Mutter,
und da Frau Beate nicht will, daß er von
jener geschminkten Lebedame zum Manne
geküßt wird, geht sie stracks zu ihr hin und
stellt sie zur Rede. Auf ähnliche Weife hat
sie ihren späteren Gatten einst aus den
Banden einer älteren Witwe befreit, und
dieser Parallelismus der Geschehnisse ist na-
türlich nicht zufällig. Wer den tiefer liegen-
den Sinn der Novelle „erahnen" will, muß
ihn im Auge behalten. Die besorgte Mutter
erhält im vorliegenden Falle Halbwegs be-
ruhigende Zusicherungen, aber sie werden
nicht gehalten, und bald weiß sie, daß ihr
Bub seine Nächte bei dem unwürdigen
Weibe verbringt. Damit ist er ihr als Kind
verloren, er lebt sein eigenes Leben, und sie,
die seit des Gatten Tode sich nur ihm ge-
widmet hat, ist mit einem Male allein. In
dieser Einsamkeit, des bisherigen Haltes
und Daseinszweckes beraubt, von den Vor-
stellungen jener Dinge verfolgt, die ihr den
Sohn nahmen, macht sie selbst eine neue
Entwicklung durch. Das Weib erwacht in
ihr und verdrängt die Mutter; sie achtet
mehr auf ihre Umgebung und sieht sich von
 
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