Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

DOI issue:
Heft 3 (November 1913)
DOI article:
Neues vom Büchertisch
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0564

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
K Neues vom Büchertisch G
Von Earl «Busso
Richard Dehmel, Schöne wilde Welt (Berlin, S. Fischer) — Franz Karl
Ginzkey, Der Wiesenzaun (Leipzig, L. Staackmann) — Heinrich Ernst Kromer,
Arnold Lohrs Zigeunerfahrt (Frankfurt a. M., Rütten L Loening) — Hans
Grimm, Südafrikanische Novellen (Ebenda) — Ida Boy-Ed, Eine Frau
wie Du (Berlin, Ullstein) — Nanny Lambrecht, Die tolle Herzogin (Berlin,
E. Fleische! L Co.)

»MÜL««

m 18. November wird Richard
Dehmel fünfzig Jahre alt. Er
hat sich mit solcher Macht in der
modernen Dichtung durchgesetzt,
daß niemand so leicht an ihm vor-
beikommt. Und da es der Zufall wollte,
daß in diesen Heften noch niemals ausführ-
licher über ihn die Rede war, so wollen wir
die gebotene Gelegenheit ergreifen und zu
ihm Stellung nehmen. Auch sein neu er-
schienenes Gedichtbuch „Schöne wilde
Welt" (Berlin, S. Fischer) gibt dazu Ver-
anlassung.
Umschreiben wir vorneweg erst einige der
ästhetischen Anschauungen, zu denen sich Deh-
mel bekennt. Er sagt, daß die Kunst Lebens-
äußerung des ganzen Menschen sei, daß sie
die Natur nicht nachzuahmen, sondern im
Gegenteil ihre Willkür und ihre Zufällig-
keiten zu beseitigen habe, daß sie nicht Ab-
bilder des natürlichen, sondern Vorbilder des
menschlichen Daseins schaffe, daß sie uns einen
Zuwachs an Freiheitsgefühlen bringe. Er
spricht das selbstverständliche, aber heute fast
originelle Wort aus, daß menschliche Ent-
wicklung künstlerische Entwicklung und mensch-
liche Unvollkommenheit künstlerische Unvoll-
kommenheit sei. Er wendet sich entschieden
gegen das l'art povr Prinzip und ver-
langt eine auf das Leben wirkende, leben-
bejahende oder, wie Goethe sagt, echt „tyr-
täische" Dichtung, die den Menschen empor-
reißt und stärker macht.


Das sind gewiß kerngesunde und äußerst
sympathische Anschauungen, und es wäre
niemals zu so erbitterten Kämpfen gekom-
men, wenn zwischen dem Kunst theoretiker
und dem Kunst schöpfer Dehmel nicht immer
eine gewisse Spannung bestanden hätte. So
aber trat der merkwürdige Fall ein, daß ge-
rade diejenigen Leute, die seiner Kunstauf-
fassung am entschiedensten zustimmten, sich
oft am schärfsten gegen seine Dichtung wand-
ten, ja sich wohl gar durch sie sittlich verletzt
und beleidigt fühlten. Um das zu verstehen,
muß man sich klarmachen, daß im Gegensatz
zu den apollinisch-ruhigen Dichtern die dio-
nysisch-orgiastischen vom Schlage Dehmels
ihr Ideal nicht aus ihrem eigensten Wesen
heraustreiben, sondern aus dem Gegensatz
ihres Wesens, nicht aus ihrer Natur, sondern
aus ihrem Willen, aus dem gegen ihre Natur
ankämpfenden Vollendungsstreben. So ist

auch Dehmels ganze Dichtung ein steter
Kampf und Krampf: sie ist geboren aus
dem immerwährenden erbitterten
Widerstreit der dumpfen, nieder-
ziehenden Triebe und desbewußten,
emporreißenden Erlösungswillens.
In diesem oft großartigen Ringen gab es
auf beiden Seiten Siege und Niederlagen,
und daraus erklärt sich der heftige Gegensatz
in der Beurteilung dieses Mannes. Die einen
sahen nur das Peinliche: das Niederfah-
ren in Tiefen, die die feine Scham adeliger
Menschen stets bedecken wird, die Trieb-
dumpfheit, die nach Lüsten und Inbrünsten
allerart giert, das Stöhnende, Geile, Näch-
tige — und sie fanden, heftig zurückgestoßen,
diesen Dichter unästhetisch, dunkel, ja unsitt-
lich. Die anderen sahen nur das Rein-
liche: das gewaltige, öfter noch gewaltsame
Streben, mit dem sich derselbe Mann aus
dem Grunde der Wolfsgruben zu den Ster-
nen emporreißt, den herrlichen Aufschwung,
mit dem er aus —, ja schon in jeder Höllen-
fahrt zum Himmel emporrauscht, den wild-
schmerzlichen Drang zur Höhe, den er gerade
in den dunkelsten Tiefen als Stachel emp-
fängt. Seit wir das Eesamtwerk Dehmels
überblicken können, fühlen wir dieses Spor-
nende und Gespornte viel stärker und deut-
licher als früher, und wer sich nicht künstlich
blind macht, wird gern bekennen, daß seit
langem kein Poet so inbrünstig nach Selbst-
erziehung, nach Klarheit, nach Sittlichkeit
gerungen hat wie er. Um so schmerzlicher
empfand er es, daß man ihn, gerade ihn,
der Zuchtlosigkeit, der Dunkelheit, ja der Un-
sittlichkeit zieh. Aber schon in dem steten
Bluten dieser Wunde liegt doch das Ein-
geständnis, daß man hier irgendwie seine
schwächste Stelle traf. Der Fall ist ja auch
ganz klar: das natürliche Sittlichkeitsgefühl
fällt nicht immer mit seinem inbrünstigen
Sittlichkeits streb en zusammen — ebenso-
wenig wie etwa der Naturbesitz der naiven
mit der Natursehnsucht der sentimentalen
Dichter.
Der sentimentalen Dichter... wenn
man dieses Wort in der Schillerschen Prä-
gung überhaupt auf einen modernen Poeten
anwenden will, so trifft es Richard Dehmel.
Er hat die eminent unnawe, wohl auch un-
germanische Eigenschaft, nichts in seinem
natürlichen Rahmen zu lassen, sondern alles
 
Annotationen