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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 3 (November 1913)
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Neues vom Büchertisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0565

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Carl Busse: Neues vom Büchertisch 471

zu überschrauben, alles gleich in Himmel oder
Hölle zu tragen. Seine Liebe schwankt im-
mer zwischen Gott und Tier; sie ist Brunst
oder Erlösung, vielmehr beides zugleich, sie
ist stets exaltiert und kennt keine Zwischen-
stufen. Das Erwartungsgefühl des Lieben-
den oder das der Braut wird gleich immer
zu einem Stöhnen, Glühen, Rasen, und wenn
hier wie an tausend ähnlichen Stellen die
Empfindung sentimentalisch übertrieben wird,
so ist in anderen Gedichten die Anschauung
(oder eigentlich der Mangel an Anschauung)
sentimentalisch. Man nehme z. B. aus den
„Ausgewählten Gedichten" die „Tragische
Erscheinung". Die Idee ist wunderschön:
ein Schwärmer, der für das in der Wüste
verschmachtende Volk sein Blut hingibt, um
sterbend zu hören, daß sein Liebesopfer um-
sonst ist, denn „sie brauchen Wasser"! Das
Bild aber: hier das dürstende Volk und dort
der ausgestreckte Zeigefinger mit dem roten
Blutströpsen, der alle diese Menschen laben
soll, — dieses Bild ist komisch. Es ist ge-
dacht, nicht gesehen. Goethe hat aus ähn-
lichen Gründen über Klopstocks „Musenwett-
lauf" gespottet, und so seltsam es zuerst er-
scheinen mag: der alte Klopstock und der
moderne Dehmel haben eine Unmenge Be-
rührungspunkte. Beide sich gleich in der
Pindarischen Pathetik und Rhetorik, in dem
Affektiert-Übertriebenen, in ihrer Sucht, alles
aufs „Ewige" zu beziehen, in ihren abstrak-
ten Gleichnissen, in ihrer inbrünstigen Ge-
fühlslyrik, in der Einführung neuer Rhyth-
men und in der schrullenhaften Schreibart,
in dem Verlangen, man solle ihre Verse „wie
Prosa" lesen (weshalb Dehmel auch die klei-
nen Anfangsbuchstaben für die Verszeilen
wieder ausgrub), in ihren Härten und viel-
berufenen „Dunkelheiten", in ihrem Mangel
an Humor und Naivität, in ihrer ewigen
Umarbeitungswut und der Anlage ihrer ku-
riosen „Dramen" — es wäre verlockend, die
Parallele durchzuführen.
Zeitlich nähere Verwandte hat Dehmel
natürlich in den etwas gewaltsamen Rausch-
spendern der siebziger Jahre, deren heimliche
Neigung zu romanischer Kultur er teilt. Man
mag an Wagner und Nietzsche denken, und
was der Hammerphilosoph mit Verwandten-
grausamkeit bei Wagner als „semitisch" auf-
deckte, das sind die gleichen Eigenschaften, die
wir auch bei Dehmel finden und die man bei
ihm wie bei Nietzsche selbst gewöhnlich auf
einen slawischen Bluteinschlag zurückführt.
Es sind die typischen Wollust- und Zer-
knirschungsekstasen, die verräterischen Bruta-
litäten, die „skythisch-wilden Inbrünste", die
in ihrer Krampfhaftigkeit wohl gelegentlich
über die Grenzen der Scham und des Ge-
schmackes hinausgehen. Und genau wie es
immer eine Menge gute Deutsche geben wird,
die Richard Wagner trotz seines leidenschaft-
lichen Willens zum Germanischen im Kern
als undeutsch empfinden werden, genau so
wird es auch immer Leute geben, deren
naives sittliches Gefühl sich hier und da im

stärksten Gegensatz zu dem sentimentalen
Sittlichkeitswillen Dehmels bewegen wird.
Es war doch nicht etwa nur Banausentum
oder Niedertracht, die einst die Waffen gegen
ihn erhoben. Kein moderner Lyriker hat sich
in immer neuem Wagemut höher geschraubt
als er, aber keiner hat sich auch manchmal
so steuerlos verflogen. Nur ein so völlig
unnaiver Dichter konnte es z. B. fertig brin-
gen, in Kinderliedern nicht die kindliche An-
schauung zu befreien, sondern das mangel-
hafte Sprechvermögen der kleinen Leute nach-
zuahmen. Derselbe Mann, der theoretisch
ganz richtig verlangt, daß die Kunst die Will-
kür, Unvollkommenheit und Zufälligkeit der
Natur zu korrigieren habe, radebrecht selber
in Versen: „Lieber ßöner Hampelmann."
Das ist nur ein kleines und harmloses Bei-
spiel, wie wenig sich Theorie und Praxis
hier und da bei ihm decken.
Trotz alledem: er ist wohl die mächtigste Er-
scheinung, die wir in der gegenwärtigen Lyrik
haben. Eine genial-orgiastische Persönlich-
keit, hat er sich mit allen Mächten des Him-
mels und der Erde herumgeschlagen, ist er in
allen Strömen geschwommen, hat er sich mit
dem ganzen Kulturgut der Zeit bereichert
und ist schon dadurch fast allen mitlebenden
lyrischen Talenten überlegen. Wohl wird
verhältnismäßig selten ein künstlerisch ganz
reiner Ausgleich der entzweiten Kräfte er-
reicht, aber wenn es geschieht, dann haben
die betreffenden Gedichte eben auch jenen
Nachdruck, den nur die große Persönlichkeit
verleihen kann, und übertreffen die vielleicht
gleich reinen Gaben anderer Poeten durch
die Tiefe, die sie unter sich ahnen lassen.
Wir haben von Dehmel — um nur das
Allerschönste zu nennen — den „Arbeits-
mann", das beste soziale Gedicht unserer
Tage; wir haben die in mächtiger Rhetorik
aufrauschende „Harfe"; wir haben die so
gläubig aus Dumpfheit und Grauen erlösende
„Stille Stadt". Diese Gedichte und eine
Handvoll anderer sind jedem Streit der Mei-
nungen schon entrückt. Um Dehmel selbst
aber wird der Streit immer weiter gehen,
wie er auch um Heine, um Wagner, um
Nietzsche nie ganz zur Ruhe kommen wird.
Er ist ein großes, reiches und gerade auch
in seiner krampfhaften Spornung zeitreprä-
sentatives Talent, aber er wird nach seinen
Anlagen niemals ein national - verbindliches
werden wie etwa Liliencron.
Über das neue Buch des Fünfzigjährigen
brauche ich nun kaum noch zu reden. Es
illustriert auf jeder Seite das hier Gesagte.
Es enthält Großes und Affektiertes, Hohes
und bloß Hochgepeitschtes in buntem Wechsel.
Wirkt hier Heißes, aus Ergriffenheit Gebo-
renes mit suggestiver Macht, so spüren wir
dort nur Gehirnüberhitztheit, der die Ent-
gleisungen ins Geschmacklose naheliegen. Die
wilde Inbrunst gibt sich nach wie vor gern
hymnisch aus; das reflexive Element, das
immer sehr stark war, prägt jetzt überraschend
viel Sprüche, darunter sehr schöne. Aus dem
 
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