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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Lenz, Max: Napoleon und das Schicksal
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0161

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Napoleon und das Schicksal
Ein Blick in sein Leben und in seine Gedankenwelt


mag Befremden erwecken, in die-
sem Jahr, das an jedem seiner
Tage das Gedächtnis an die Groß-
taten unserer Väter erneuert, dem
Manne ein Gedenkblatt zu wid-
men, der das Joch, das jene zerbrachen, auf
die Schulter unseres Volkes gelegt hat. Wie-
viel näher, so könnte man einwenden, müßte
es liegen, in das Lob der Helden einzustim-
men, die unserm Volke den Weg zur Frei-
heit gewiesen, und der ungezählten Namen-
losen, die mit ihrem Blute den Glauben daran
besiegelt haben! Wenn ich es dennoch wage,
die Blicke meiner Leser einmal nach der ent-
gegengesetzten Seite zu lenken, auf den Mann,
gegen welchen alle diese Kräfte sich wandten,
so geschieht es nicht etwa, weil mir als einem
neuen Cato die Sache des Besiegten besser
gefiele, sondern weil der Zusammenhang der
Dinge, die Gründe der Erhebung, die Kräfte,
die dabei in die Wagschale gelegt wurden,
von keinem Punkte aus besser zu übersehen
sind und also die Bedeutung jener Helden
selbst nur in um so helleres Licht treten kann.
Auch das Maß der Schuld, das auf
Napoleon lastet, wird dann um so deutlicher
werden. Niemand in der Welt ist mehr ge-
haßt, und auf keines Menschen Haupt sind
die Anklagen voller gehäuft worden, als
auf das seine: aber auch niemand hat je-
mals stärker gebüßt als der Gefangene von
St. Helena. Und vergessen wir nicht, daß
dies Europa, welches ihn ausstieß, ihm einst
fast ausnahmslos zu Füßen gelegen, daß
die Feinde von heute Freunde von gestern
gewesen, daß nur allzuviele unter ihnen ihm
willig gefolgt waren, sich ihm verbrüdert
und verschwägert, Provinzen und Kronen
aus seiner Hand genommen, ihre Staaten
mit seiner Hilfe von Grund aus neu auf-
gebaut hatten. Man darf ja gar nicht ein-
mal von einer Erhebung der deutschen Nation
sprechen. Es war zunächst ein Kampf
Deutscher gegen Deutsche, mit fremden Alli-
ierten oder unter fremden Fahnen, wie alle
Kriege, die seit Jahrhunderten auf deutschem
Boden geführt worden waren. Nicht die
Begeisterung für Deutschlands Ehre und Frei-
heit führte Österreichs Armeen nach langem
Schwanken den Preußen und Russen zu; und
erst als Napoleons Macht bei Leipzig nieder-
gebrochen war und seine aufgelösten Divisio-
nen dem Rhein zustrebten, legten sich ihm
die Bayern vor, — um ihm zum letzten
seiner Siege auf deutschem Boden zu verhelfen.
Rheinbundtruppen standen von der Weichsel
bis zur Elbe in den preußischen Festungen,
welche für die aus Rußland zurückflutende
Armee Sammel- und Stützpunkte wurden,

und füllten aufs neue die Cadres, welche die
ungebrochene Energie des Kaisers gegen die
norddeutschen Rebellen aufgestellt hatte. Dem
Aufstande des Volkes ging der Abfall der
Regierungen zur Seite oder voraus: von
Provinz zu Provinz, von Land zu Land, so
wie die fortrollende Lawine hinter dem Flie-
henden herstürzt.
So aber war es gewesen, seitdem Napoleon
die Blicke der Welt auf sich gelenkt: solange
er Kriege geführt, hatte er auch Alliierte ge-
habt; und nur dadurch hatte er siegen können,
daß er ihren Ehrgeiz befriedigte, ihnen An-
teil an der Beute gab, ihnen zu Hilfe kam,
wenn ihre kaum geschaffene Macht angegrif-
fen war. Noch im Jahre 1814 hat er Bundes-
genossen gehabt: die Italiener, die unter
seinem Stiefsohn König Eugen für die Zukunft
ihrer Nation gegen Österreich stritten; wenn
er damals den Frieden aus der Hand der
Gegner nicht hat annehmen wollen, geschah
es auch deshalb, weil er diese letzten Freunde
nicht im Stich lassen konnte oder wollte.
Einzig in dem Feldzuge von Waterloo hatte
er nichts weiter hinter sich als Frankreich.
Er selbst sprach in seinen Bundesverträgen
immer nur von seinen Alliierten und den
gemeinsamen Interessen; als „Chef der kon-
tinentalen Liga" hat er sich selbst bezeichnet.
Durch die Kräfte des Festlandes wollte er
das Meer erobern.
In Wirklichkeit galt freilich, so weit sein
System reichte, kein Wille neben dem seinen.
Wenn er seine Brüder erhöhte, ihnen die
Reiche gab, die wie eine Kette von Bastionen
um Frankreich her gelagert waren, so er-
hielten auch sie damit keine andere Stellung
als die Bayern, die Polen, die Österreicher,
die Preußen und Jedermann, der von dem
Übermächtigen in die Allianz gezogen oder
gezwungen ward. Sie durften die Kronen,
die er ihnen gab, gar nicht zurückweisen;
jeder Versuch, eine ihren Ländern eigentüm-
liche Politik zu verfolgen, ward ihnen als
Verbrechen angerechnet, das sie mit Ab-
setzung oder der Beraubung ihrer Staaten
zu sühnen hatten. Nicht einmal persönlich
frei zu sein, als Privatmann über sich und
sein Los, seine Familie zu verfügen, gestat-
tete der Kaiser seinem Bruder Lucian. „Ich
habe Europa nicht besiegt," sprach er zu
ihm, „um vor dir zurückzuweichen. Wer nicht
für mich ist, ist wider mich. Fügst du dich
nicht meinem System, so bist du mein Feind,
und Europa ist zu klein für uns beide."
„Der Himmel kann einfallen, ich werde meine
Ansicht nicht ändern." „Man mag mich für-
ungerecht und grausam halten, wenn mein
System nur vorwärts geht."
 
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