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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 3 (November 1913)
DOI Artikel:
Hart, Hans: Wunderkinder [3]: Roman : (Fortsetzung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0493

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Wunderkinder
Roman von Hans Hart
(Fortsetzung)



Da schüttelte auch
Johann Sebastian Williguth
den Staub des Alltags von seinen
Füßen und zog nach Frankfurt,
voll süßer Hoffnung, im Bann seiner Musik.
Dem großen Kinde schien es nach den lan-
gen Jahren der Verborgenheit eine Fahrt
ins Märchenland, so daß er stumm und
milde vor seiner Seligkeit stand und seine
Bibelweisheit vollkommen vergaß. So fand
er auch kein rechtes Abschiedsrvort für Karl
Maria. Schier allein bereitete sich der
Junge zur Schlacht.
Dann kam die Miriam das letztemal
vor dem Konzert. Kokett saß sie auf dem
Fensterbrett, hatte die Knie übereinander-
gelegt und ließ den armen Karl Maria
ihre hübschen Beinchen bewundern, die nun
gar nichts mehr mit Storchenstelzen zu tun
hatten. Gönnerhaft blinzelte sie ihm zu,
und er mußte an Martha denken und an
deren verliebtes Spiel. So tat er nach
Männerart eine Phantasiereise, die Mi-
riam aber wartete auf eine Liebesszene.
„Ach, bist du dumm, Karl Maria,"
sagte sie schließlich beleidigt und sprang
von ihrem Locksitz. „Ein Himmelsgucker,
wie der Joseph." Und das alles, weil er
nicht bettelte vor ihrer kecken Schönheit.
Blaß und weltfern lehnte er am Fenster,
in der großen Bangigkeit vor der Entschei-
dung. Dann stieß er verzweifelt hervor:
„Ich habe solch dumme Angst, Miriam!"
Da schlich sie zu ihm hin und schmiegte sich
fest an ihn. „Ich will nie vergessen, wie
lieb wir einander hatten." Und während
ihre schlanken, festgliedrigen Finger Karl
Marias Haar streichelten, flüsterte sie
weiter: „Ich will hinauf, und du sollst es
auch."
Er atmete schwer. Sie aber klatschte
in die Hände und tanzte durchs Zimmer.
„Geige sie alle nieder, Karl Maria, alle!"
Plötzlich bettelte sie ganz zaghaft: „Aber,
bitte, spiele mich nicht tot! Hast mich ja
lieb."
Wehrlos und stumm stand der Junge
vor diesem ersten Flügelschlag der Frauen-

selbstsucht. Starr antwortete er: „Ich muß
Mutter und Schwester freikaufen." Trotzig
ging sein Blick ins Dunkel. Wie Fieber
brannte es in seinem Blut, Hitze und Frost,
in jähem Wechsel. Heimlich betrachtete er
die Miriam. ,Die siegt. Und ich A
Beim Nachtessen bat Karl Maria: „Laßt
mich heute im Musiksaal schlafen. Ich habe
oben doch keine Ruhe. Und wenn ihr mein
Geigenspiel hört, erschreckt nicht gleich."
Die Williguths legten Messer und Gabel
hin, rollten traurige und erstaunte Augen
und priesen einhellig den Segen eines ge-
sunden Schlafes. Frau Lisbeth aber ent-
schied zugunsten ihres Jungen. Es war ja
das erste Stück des Weges, den er von jetzt
an allein zurücklegen mußte, und sie wollte
ihm diesen Anfang nicht noch schwerer
machen.
Lärmend bereiteten ihm die Williguths
das Lager, und der Zuckerbäcker Robert,
der noch schnell alle Ecken und Winkel des
Musiksaals mit einer Kerze abgeleuchtet
hatte, sprach ihnen allen aus dem Herzen,
als er draußen flüsterte: „Jetzt kriegt er
Gespensterbesuch."
Karl Maria Tredenius war allein, wie
ein Priester vor seiner ersten Messe. Lang-
sam schlief der „Blaue Herrgott" ein. Auch
die einsamen Gassen sanken in Nacht und
Stille. Nur Karl Marias Herz klopfte fort
und fort — wie ein Uhrwerk im Dunkel.
Er trat ans Fenster. Wolkenschwer und
sternlos hing der Himmel über Stadt und
Land. Im Westen war ein gelbrotes
Leuchten, das aber nicht von der längst
versunkenen Sonne, sondern von den Lich-
tern der großen Stadt kam, die dort hinten
begann, wo das stille Reich des „Blauen
Herrgotts" sein Ende hatte. Karl Maria
grüßte diese Lichter. Morgen trat er mitten
unter sie und warb um ihren Glanz.
Dies Morgen stand wie ein Gespenst vor
ihm. Er streckte die Hände aus, als müßte
er etwas niederringen, das aus der Dun-
kelheit ihm entgegenwuchs. Dann griff er
nach der Geige. Die Angst wollte er weg-
spielen, geriet aber immer tiefer hinein.
 
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