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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Hart, Hans: Wunderkinder [1]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0132

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Wunderkinder
Roman von Hans Hart

Selbst wenn du blutest, sag':
Ich schminkte mich.
Hebbel, Tagebücher
aller Flisderstrauch steht in
voller Blüte, die knorrige Linde
wickelt gerade ihre Blätter aus.
Ein Rosenstock, dessen Haupt eine
rote Glaskugel schmückt, streckt zartgrüne
spitze Finger vor. DiedreialtenGesellen sind
der einzige Schmuck des Gärtchens, wenn
man den Efeu, der die hohen, häßlichen
Feuermauern ein Stück hinanklettert, nicht
mitrechnet.
Der Frühling hat harte Arbeit in die-
sem schmalen Rest Natur, das wie eine
vergessene Märcheninsel zwischen dem
alten Winkelwerk sich birgt. Der Flieder
muß doppelt süß duften, will er die Küchen-
gerüche besiegen, die aus den offenen
Fenstern ringsum herausflattern. Und auf
das junge Gras fallen oft Glasscherben,
leere Konservenbüchsen, auch alte Schuhe
und Orangenschalen, wenn einer das grüne
Fleckchen als Schuttplatz ansieht, dieweil
von dem armen Volk mit der lichtlosen
Seele keine Rücksichtnahme auf ein winziges
Judengärtlein verlangt werden kann.
Im Fenster einer Parterrewohnung sitzt
ein kleiner Kerl mit rotem Haar, läßt die
Beine über den Efeu hinabbaumeln, hält
eine Geige in der Hand und zieht langsam
und fleißig den Bogen über die Saiten.
In dem bartlosen Gesicht leuchten scheue
braune Augen, so warm und innig, daß
nicht einmal der breite Froschmund und
die häßlichen Henkelohren dieser Schönheit
Abbruch tun können.
Auf dem spärlichen Rasen zu seinen
Füßen hocken zwei Kinder, ein Bub und
ein Mädel. Der Junge horcht mit stiller
Andacht auf die schwirrenden Töne. Sie
spielt mit Sardinenbüchsen und stopft Oran-
genschalen hinein. Eine häßliche Fetzen-
puppe liegt nicht weit davon im Schatten
des Fliederbaumes.
So spielte Joseph Italiener ganz ver-
sunken seinen Beethoven, schlug auf dem
armen Efeu den Takt dazu und drückte

das Kinn über die Geige. Die kleine
Schwester warf plötzlich die Sardinen-
büchse weg, ergriff die geliebte Puppe bei
den Armen und begann, mit ihr sich leise
in den Hüften wiegend, über den Rasen
zu tanzen, voll wunderbarer Gelenkigkeit
des siebenjährigen Körperchens, die schwar-
zen Augen ernsthaft aufgerissen, den blon-
den Kopf in den Nacken gelegt, gliederschnell
und leicht wie ein Elflein auf dem Liba-
non. Ganz zierliche Schritte machte sie,
hob die Beinchen mit den häßlichen groben
Strümpfen, ließ sie kunstgerecht wippen
und schwingen, und schließlich stand sie bloß
auf einem Bein wie ein Storch und drehte
Körper und zweites Bein wie Windmühlen-
flügel um die feste Achse. Die kleine Miriam
war ein Ballettkind, dem man schon vor
drei Jahren Gelenke und Knochen biegsam
und elastisch gemacht hatte. Und die
Geige des Bruders reizte sie, ihre Kunst zu
zeigen.
Wie eine Sehnsucht war es, loszukom-
men aus dieser Enge voll Schmutz und
Düster, in der Blumen und Kinder nicht
gedeihen wollten. Mit den winzigen Hän-
den warf Miriam dem Geiger Kußhände
zu. Joseph lächelte schwermütig und übte
weiter mit einer stumpfen Beharrlichkeit,
die etwas Verzweifeltes hatte. Der kleinen
Miriam fiel alles so leicht. Für sie war das
arme Gärtlein der richtige Garten Eden,
in dem winzige Mägdlein Königinnenrecht
haben. In ihrem Übermut traf sie beim
Tanzen mit der Fußspitze die Nase des
kleinen Knaben, der mit halboffenem
Munde dem Geigenspiel lauschte. „Him-
melsgucker!" lachte sie und zeigte die spitze
Zunge, die wie ein rotes Schlänglein der
Bosheit hervorschnellte.
Der Kleine fuhr mit der feinen, schmal-
fingrigen Hand nach der getroffenen Nasen-
spitze und glitt von dort nachdenklich auf-
wärts über die breite, niedrige Stirn zum
dunkelbraunen Haar, das wild und zer-
zaust durcheinanderhing. Dann sagte er
langsam: „Auch Geige spielen!"
Aber Joseph geigte weiter, und Miriam
 
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