ZLLLEEELLLLLLLD Hans Hart:
tanzte. Da riß der kleine Karl Maria ein
Gänseblümchen aus, das neben ihm aus
dem Gras guckte, hielt das weißrote Stern-
chen in der Hand und pfiff leise vor sich hin.
Joseph Italiener ließ den Bogen ruhen.
»Jetzt pfeift mir der Knirps gar die Me-
lodie nach, und fehlerlos auch noch!"
Es war ein dünnes, mühseliges Pfeifen
wie Grillenzirpen, aber Takt lief nach
Takt ab, ganz rein und klar. Joseph ließ
wieder den Bogen Hüpfen und kniff den
breiten Mund zusammen, was gar komisch
aussah. Miriam wenigstens fand die Ko-
mik heraus. Flugs hielt sie mit dem Tan-
zen inne und sang, noch ganz atemlos, mit
ihrer glockenhellen Kinderstimme:
„Kleins Männele, kleins Männele, was
kannst du machen?
Ich kann wohl spielen auf meiner Geig',
Ging, Ging, Ging, so macht meine Geig'."
Und Karl Maria pfiff innig vergnügt auch
diese Melodie, die er gar nie gehört hatte.
Jetzt aber lief die Geige wie ein Ritter
in Brünne und Helm fort über Kinder-
sang und Pfeifen. Bub und Mädel
lauschten. Plötzlich hob der Knabe den
Arm. Den Kopf hielt er gesenkt wie in an-
gestrengtem Lauschen, dann glitt die rechte
Hand wie ein Bogen über den linken Arm,
und er spielte stumm mit.
„Dummerle." Die Miriam lachte, schlich
herbei und legte ihre Orangenschalen dem
Buben auf das dunkelbraune Haar. Er
merkte es gar nicht. Die Abendsonne aber
glitt hernieder und ließ ihr Spiel über das
Gärtlein tanzen, über das rote Haar des
Joseph, über das feine Blond der Mi-
riam und über die zerquetschten grellroten
Orangenschalen auf dem Kopf des Karl
Maria Tredenius, der sein stummes Abend-
lied der Sonne vormusizierte.
R R W
Der goldene Glanz dieser Abendstunde
hielt den kleinen Karl Maria noch im
Bann, als er längst in der düstern Eltern-
wohnung beim kargen Abendessen saß.
Mit den Händen deckte er die Ohren, weil
die scharfe Stimme des Vaters seine Träu-
me so grausam zerriß. Der Postoffizial
Franz Tredenius schimpfte wieder einmal
über alles. Amt und Abendessen waren
ihm gleich zuwider. Und als er gar be-
merkte, daß sein Bub sich die Ohren zu-
hielt vor seinem Poltern, gab er ihm
Wunderkinder 101
eine Ohrfeige und schrie: „Verdammter
Balg!"
Der Junge duckte sich, zog die Schultern
ein, aber er weinte nicht. Die sechzehn-
jährige Martha, ein schönes Mädchen mit
einem klugen, nichtsnutzigen Grisettenkopf,
lachte schadenfroh und nickte dem Vater
zu. Frau Lisbeth zog die feinen schwar-
zen Brauen hoch und wandte die Äugen
ab. Ein Schauer lief über sie hin. Tag
für Tag gab es solche Szenen, und ihre
Widerstandskraft, die Karl Maria in Schutz
nehmen wollte, wagte sich allgemach nicht
mehr hervor. So schwieg sie auch heute,
bis Franz Tredenius ins Wirtshaus eilte,
und Martha, die längst ihre eigenen Wege
ging, zu Freundinnen an die Haustür lief,
mit denen sie an diesen Frühlingsabenden
die Gasse auf- und niederzog.
Karl Maria saß lautlos da und sah der
Mutter zu, die den Tisch abräumte. Seine
Seele fror, er kroch ganz in sich hinein und
ließ die Umwelt versinken. Nur seine
Kinderträume behielten ihr Recht. In
seinen Ohren tönte das Geigenspiel des
Joseph Italiener, und die Noten sprangen
zum offenen Fenster herein wie winzige
Knaben, mit denen er spielen durfte. Auf
einmal riß er die Augen weit auf, und sein
Herz begann laut zu pochen. Klaviertöne
zitterten herüber aus dem Nebenzimmer.
Die Mutter spielte, wie immer, wenn
Vater und Schwester fort waren. Ganz
leise glitt der Knabe von seinem Stuhl und
schlich der Musik nach. An der Tür blieb
er stehen und barg sich in den Falten des
alten roten Vorhangs. Da saß seine Mutter
vor dem Klavier, hochaufgerichtet und
schön, und spielte. Ihre Augen leuchteten,
und auf den blassen Wangen lag eine
leichte Röte, als wüchsen aus dem Halb-
dunkel des Abends rosarote Rosen. Karl
Maria rührte sich nicht. Mit gefalteten
Händen, wie ein betender kleiner Engel,
stand er in stiller Andacht. Plötzlich seufzte
die Mutter tief auf und ließ das Spiel.
Sie stützte den Kopf in die Hand und sann
vor sich hin. Ein Schluchzen kam zu dem
Bübchen, das in jähem Erschrecken sich in
die Vorhangfalten hängte, als suchte es da
Hilfe. Zitternd betete Karl Maria: „Lieber
Gott, schick' einen Engel." Der sollte der
Mutter helfen. Und im Dunkel schwebte
wohl ein Engel herein. Denn Frau Lis-
tanzte. Da riß der kleine Karl Maria ein
Gänseblümchen aus, das neben ihm aus
dem Gras guckte, hielt das weißrote Stern-
chen in der Hand und pfiff leise vor sich hin.
Joseph Italiener ließ den Bogen ruhen.
»Jetzt pfeift mir der Knirps gar die Me-
lodie nach, und fehlerlos auch noch!"
Es war ein dünnes, mühseliges Pfeifen
wie Grillenzirpen, aber Takt lief nach
Takt ab, ganz rein und klar. Joseph ließ
wieder den Bogen Hüpfen und kniff den
breiten Mund zusammen, was gar komisch
aussah. Miriam wenigstens fand die Ko-
mik heraus. Flugs hielt sie mit dem Tan-
zen inne und sang, noch ganz atemlos, mit
ihrer glockenhellen Kinderstimme:
„Kleins Männele, kleins Männele, was
kannst du machen?
Ich kann wohl spielen auf meiner Geig',
Ging, Ging, Ging, so macht meine Geig'."
Und Karl Maria pfiff innig vergnügt auch
diese Melodie, die er gar nie gehört hatte.
Jetzt aber lief die Geige wie ein Ritter
in Brünne und Helm fort über Kinder-
sang und Pfeifen. Bub und Mädel
lauschten. Plötzlich hob der Knabe den
Arm. Den Kopf hielt er gesenkt wie in an-
gestrengtem Lauschen, dann glitt die rechte
Hand wie ein Bogen über den linken Arm,
und er spielte stumm mit.
„Dummerle." Die Miriam lachte, schlich
herbei und legte ihre Orangenschalen dem
Buben auf das dunkelbraune Haar. Er
merkte es gar nicht. Die Abendsonne aber
glitt hernieder und ließ ihr Spiel über das
Gärtlein tanzen, über das rote Haar des
Joseph, über das feine Blond der Mi-
riam und über die zerquetschten grellroten
Orangenschalen auf dem Kopf des Karl
Maria Tredenius, der sein stummes Abend-
lied der Sonne vormusizierte.
R R W
Der goldene Glanz dieser Abendstunde
hielt den kleinen Karl Maria noch im
Bann, als er längst in der düstern Eltern-
wohnung beim kargen Abendessen saß.
Mit den Händen deckte er die Ohren, weil
die scharfe Stimme des Vaters seine Träu-
me so grausam zerriß. Der Postoffizial
Franz Tredenius schimpfte wieder einmal
über alles. Amt und Abendessen waren
ihm gleich zuwider. Und als er gar be-
merkte, daß sein Bub sich die Ohren zu-
hielt vor seinem Poltern, gab er ihm
Wunderkinder 101
eine Ohrfeige und schrie: „Verdammter
Balg!"
Der Junge duckte sich, zog die Schultern
ein, aber er weinte nicht. Die sechzehn-
jährige Martha, ein schönes Mädchen mit
einem klugen, nichtsnutzigen Grisettenkopf,
lachte schadenfroh und nickte dem Vater
zu. Frau Lisbeth zog die feinen schwar-
zen Brauen hoch und wandte die Äugen
ab. Ein Schauer lief über sie hin. Tag
für Tag gab es solche Szenen, und ihre
Widerstandskraft, die Karl Maria in Schutz
nehmen wollte, wagte sich allgemach nicht
mehr hervor. So schwieg sie auch heute,
bis Franz Tredenius ins Wirtshaus eilte,
und Martha, die längst ihre eigenen Wege
ging, zu Freundinnen an die Haustür lief,
mit denen sie an diesen Frühlingsabenden
die Gasse auf- und niederzog.
Karl Maria saß lautlos da und sah der
Mutter zu, die den Tisch abräumte. Seine
Seele fror, er kroch ganz in sich hinein und
ließ die Umwelt versinken. Nur seine
Kinderträume behielten ihr Recht. In
seinen Ohren tönte das Geigenspiel des
Joseph Italiener, und die Noten sprangen
zum offenen Fenster herein wie winzige
Knaben, mit denen er spielen durfte. Auf
einmal riß er die Augen weit auf, und sein
Herz begann laut zu pochen. Klaviertöne
zitterten herüber aus dem Nebenzimmer.
Die Mutter spielte, wie immer, wenn
Vater und Schwester fort waren. Ganz
leise glitt der Knabe von seinem Stuhl und
schlich der Musik nach. An der Tür blieb
er stehen und barg sich in den Falten des
alten roten Vorhangs. Da saß seine Mutter
vor dem Klavier, hochaufgerichtet und
schön, und spielte. Ihre Augen leuchteten,
und auf den blassen Wangen lag eine
leichte Röte, als wüchsen aus dem Halb-
dunkel des Abends rosarote Rosen. Karl
Maria rührte sich nicht. Mit gefalteten
Händen, wie ein betender kleiner Engel,
stand er in stiller Andacht. Plötzlich seufzte
die Mutter tief auf und ließ das Spiel.
Sie stützte den Kopf in die Hand und sann
vor sich hin. Ein Schluchzen kam zu dem
Bübchen, das in jähem Erschrecken sich in
die Vorhangfalten hängte, als suchte es da
Hilfe. Zitternd betete Karl Maria: „Lieber
Gott, schick' einen Engel." Der sollte der
Mutter helfen. Und im Dunkel schwebte
wohl ein Engel herein. Denn Frau Lis-