Hans Hart:
102
beth richtete sich auf, blickte zum offenen
Fenster wie in stiller Dankbarkeit und griff
dann wieder in die Tasten. Ein Stürmen
geschah da, ein Hinjagen und Rennen, als
liefen viele, viele Menschen der Sonne ent-
gegen. Karl Maria lächelte glücklich und
schlich lautlos in sein Kämmerlein. Wenn
der liebe Engel da war, durfte er nicht
stören und mußte artig schlafengehen. Still
lag er in seinem Bett. Da kamen Schritte,
und die Mutter trat herein.
„Schläfst du, Kleiner?"
Er gab keine Antwort, sondern öffnete
nur die Arme und wartete. Dann schlang
er sie um den Nacken der Mutter und blieb
ganz still. Sie küßte ihn. Da faßte er
kecken Mut und bettelte: „Darf ich auch
Geige spielen, wie der Joseph?"
„Du bist noch zu klein dazu, Liebling."
„Aber die Miriam tanzt doch auch und
ist noch klein."
„Vater würde es nicht erlauben."
„Spielst du deshalb nur am Abend?"
Statt zu antworten, legte ihm sie die Hand
auf den Mund. Eine Weile schwieg er und
blieb glücklich in dieser sicheren Liebe.
Dann aber bat er wieder um seine Geige
und ließ sich nicht davon abbringen.
„Es darf nicht sein, Karli, glaub' mir's
doch!"
„Ich will so fleißig sein, Mutter, da
lerne ich es ganz allein!" Bange Angst
war in Frau Lisbeth, als sie sah, wie ihre
eigene Sehnsucht im Herzen ihres Kindes
Wurzel schlug und die Musik auch ihn in
Bann und Zauber hielt. Aber sie dachte,
wie Franz Tredenius ihr Klavierspiel ver-
lachte und haßte, und wollte des Kleinen
Seele vor ihres Mannes Fäusten schützen,
die diese Kinderfreude mit rauhem Griff
ersticken würden. Und da sie Karl Maria
nicht mit einem unwiderruflichen Nein
kränken wollte, schob sie die Aussicht ein-
fach hinaus und versprach ihm eine kleine
Geige zu seinem nächsten Geburtstag,
wenn er sehr brav wäre und in der Schule,
in die er im Herbst kommen sollte, gute
Noten erhielte. Damit war er ganz zu-
frieden, hielt die Hand der Mutter fest und
schlief ein. Im Traum hörte er wieder
seine geliebte Geige klingen. Aber es war
nur Schwester Martha, die beim Nach-
hausekommen eine Operettenmelodie pfiff.
Am Morgen lief Karl Maria mit seiner
jungen Freude ins Nachbarhaus zu Miri-
am. Sie war noch nicht von der Schule
zurück. So setzte er sich neben den Groß-
vater Italiener, einen dürren Greis, der
noch Kaftan und Löckchen trug. Großvater
Samuel besaß ein kleines Bänkchen, das
er gewissenhaft der Sonne nachschleppte,
um jeden Sonnenstrahl mit seinem frosti-
gen Körper aufzufangen. Für Karl Ma-
ria war der gutmütige, etwas schmierige
Samuel der Märchengreis. Er erzählte
wunderhübsche kleine Geschichten, die er
mühelos erfand. Nicht umsonst war er in
seiner polnischen Heimat Hochzeitstrou-
badour und Witzmacher gewesen, der Trä-
nen und Lachen mit gleicher Kunst zu ent-
locken vermochte. Hier, in der großen,
fremden Stadt allerdings war es ihm schief
gegangen. Er war wie sein Sohn, der
bärenstarke Gideon, ein Schlemihl, der im
Tempel und in der Gemeinde etwas galt,
im praktischen Leben aber stets einige
Stunden später antrabte, nachdem schon
die anderen in das Himmelreich des Reb-
bach eingegangen waren.
In dem ehemaligen Ghetto herrschte
heute ein reges Leben. Heute nacht war
Osternacht. Feierlich angetan wandelte alles
in den Tempel oder schritt in weisen Ge-
sprächen durch die frühlingshellen Gassen.
Mitten durch diese ehrwürdigen, festlichen
Menschen tobte jetzt eine Rotte Schulkinder,
voran ein kleines Mädel mit dickem, blon-
dem Zopf. Grimmig schwang Miriam die
Schultasche und hieb damit auf diskleinen
frechen Jungen ein, die höhnend von ihr
Mazza verlangen. Karl Maria lief zu
ihrem Schutz herbei, bekam einen Stoß,
daß er taumelte, hieb aber wacker um sich,
bis der alte Samuel sein Sonnenbänkchen
als Waffe brauchte wie einst Simson den
Eselskinnbacken und die kecken Christen-
knaben verscheuchte. Lachend kehrte er dann
wieder in den geliebten Sonnenschein zu-
rück. Ganz zerzaust stand Miriam vor ihm.
„Die dummen Kerle," sagte sie verächt-
lich, warf den Trotzkopf in den Nacken
und streichelte Karl Maria die Wangen,
wie ein besorgtes Mütterlein. „Hast du's
arg gekriegt von den Eseln?"
Er schüttelte den Kopf: „O nein, Miri-
am, gar nicht."
Samuel sah den Kindern zu und lächelte
still. Er freute sich, daß seine Enkelin auf-
102
beth richtete sich auf, blickte zum offenen
Fenster wie in stiller Dankbarkeit und griff
dann wieder in die Tasten. Ein Stürmen
geschah da, ein Hinjagen und Rennen, als
liefen viele, viele Menschen der Sonne ent-
gegen. Karl Maria lächelte glücklich und
schlich lautlos in sein Kämmerlein. Wenn
der liebe Engel da war, durfte er nicht
stören und mußte artig schlafengehen. Still
lag er in seinem Bett. Da kamen Schritte,
und die Mutter trat herein.
„Schläfst du, Kleiner?"
Er gab keine Antwort, sondern öffnete
nur die Arme und wartete. Dann schlang
er sie um den Nacken der Mutter und blieb
ganz still. Sie küßte ihn. Da faßte er
kecken Mut und bettelte: „Darf ich auch
Geige spielen, wie der Joseph?"
„Du bist noch zu klein dazu, Liebling."
„Aber die Miriam tanzt doch auch und
ist noch klein."
„Vater würde es nicht erlauben."
„Spielst du deshalb nur am Abend?"
Statt zu antworten, legte ihm sie die Hand
auf den Mund. Eine Weile schwieg er und
blieb glücklich in dieser sicheren Liebe.
Dann aber bat er wieder um seine Geige
und ließ sich nicht davon abbringen.
„Es darf nicht sein, Karli, glaub' mir's
doch!"
„Ich will so fleißig sein, Mutter, da
lerne ich es ganz allein!" Bange Angst
war in Frau Lisbeth, als sie sah, wie ihre
eigene Sehnsucht im Herzen ihres Kindes
Wurzel schlug und die Musik auch ihn in
Bann und Zauber hielt. Aber sie dachte,
wie Franz Tredenius ihr Klavierspiel ver-
lachte und haßte, und wollte des Kleinen
Seele vor ihres Mannes Fäusten schützen,
die diese Kinderfreude mit rauhem Griff
ersticken würden. Und da sie Karl Maria
nicht mit einem unwiderruflichen Nein
kränken wollte, schob sie die Aussicht ein-
fach hinaus und versprach ihm eine kleine
Geige zu seinem nächsten Geburtstag,
wenn er sehr brav wäre und in der Schule,
in die er im Herbst kommen sollte, gute
Noten erhielte. Damit war er ganz zu-
frieden, hielt die Hand der Mutter fest und
schlief ein. Im Traum hörte er wieder
seine geliebte Geige klingen. Aber es war
nur Schwester Martha, die beim Nach-
hausekommen eine Operettenmelodie pfiff.
Am Morgen lief Karl Maria mit seiner
jungen Freude ins Nachbarhaus zu Miri-
am. Sie war noch nicht von der Schule
zurück. So setzte er sich neben den Groß-
vater Italiener, einen dürren Greis, der
noch Kaftan und Löckchen trug. Großvater
Samuel besaß ein kleines Bänkchen, das
er gewissenhaft der Sonne nachschleppte,
um jeden Sonnenstrahl mit seinem frosti-
gen Körper aufzufangen. Für Karl Ma-
ria war der gutmütige, etwas schmierige
Samuel der Märchengreis. Er erzählte
wunderhübsche kleine Geschichten, die er
mühelos erfand. Nicht umsonst war er in
seiner polnischen Heimat Hochzeitstrou-
badour und Witzmacher gewesen, der Trä-
nen und Lachen mit gleicher Kunst zu ent-
locken vermochte. Hier, in der großen,
fremden Stadt allerdings war es ihm schief
gegangen. Er war wie sein Sohn, der
bärenstarke Gideon, ein Schlemihl, der im
Tempel und in der Gemeinde etwas galt,
im praktischen Leben aber stets einige
Stunden später antrabte, nachdem schon
die anderen in das Himmelreich des Reb-
bach eingegangen waren.
In dem ehemaligen Ghetto herrschte
heute ein reges Leben. Heute nacht war
Osternacht. Feierlich angetan wandelte alles
in den Tempel oder schritt in weisen Ge-
sprächen durch die frühlingshellen Gassen.
Mitten durch diese ehrwürdigen, festlichen
Menschen tobte jetzt eine Rotte Schulkinder,
voran ein kleines Mädel mit dickem, blon-
dem Zopf. Grimmig schwang Miriam die
Schultasche und hieb damit auf diskleinen
frechen Jungen ein, die höhnend von ihr
Mazza verlangen. Karl Maria lief zu
ihrem Schutz herbei, bekam einen Stoß,
daß er taumelte, hieb aber wacker um sich,
bis der alte Samuel sein Sonnenbänkchen
als Waffe brauchte wie einst Simson den
Eselskinnbacken und die kecken Christen-
knaben verscheuchte. Lachend kehrte er dann
wieder in den geliebten Sonnenschein zu-
rück. Ganz zerzaust stand Miriam vor ihm.
„Die dummen Kerle," sagte sie verächt-
lich, warf den Trotzkopf in den Nacken
und streichelte Karl Maria die Wangen,
wie ein besorgtes Mütterlein. „Hast du's
arg gekriegt von den Eseln?"
Er schüttelte den Kopf: „O nein, Miri-
am, gar nicht."
Samuel sah den Kindern zu und lächelte
still. Er freute sich, daß seine Enkelin auf-