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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Goltz, Colmar von der: Das Osmanische Reich in Kleinasien
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0077

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hnungsvoll schrieb mir beim Aus-
bruch des Balkankrieges der am
12. Juni unter den Kugeln ge-
dungener Meuchelmörder hinge-
sunkene Großwesir Mahmud
Schewket-Pascha: „Wir nannten uns bisher
mit Stolz Herrscher in drei Erdteilen; wer
weiß, wie bald wir es nur noch in einem
sein werden." In der Stunde, da es ihn
am nötigsten brauchte, verlor das Land die-
sen seinen begabtesten Staatsmann. Hätte
der Sterbende noch die Empfindung dafür
gehabt, so würde auch ihn Undank härter
getroffen haben, als die heimtückisch abge-
feuerten Geschosse.
Seine Ahnung ist nicht wörtlich erfüllt
worden. Noch sind Konstantinopel und ein
unbedeutender Küstenstrich auf europäischer
Seite in türkischem Besitz geblieben. Aber
der Sache nach traf sie zu. Die Türkei ist
mit dem Londoner Frieden asiatische Macht
geworden. Ja, man kann weiter gehen und
sagen, daß sie dies werden und die Fiktion
einer europäischen Großmachtsrolle aufgeben
muß, wenn sie unter den Kulturstaaten ihren
Platz behaupten und für die eigene Exi-
stenz eine gesunde Grundlage gewinnen will.
Ich habe wiederholt darauf hingewiesen
daß der territoriale Rückbildungsprozeß, den
das Osmanische Reich seit 230 Jahren durch-
macht, nichts Unnatürliches ist. Es teilt
darin nur das Schicksal aller orientalischen
Reiche, seit dem Perserreich des Lerxes und
der makedonischen Weltmacht Alexanders.
Im ersten Ansturm gingen sie weit über die
Grenzen ihrer natürlichen Kräfte hinaus,
suchten die Eroberungen in übermäßiger
Anstrengung der nationalen Kraft aufrecht-
zuerhalten und erschöpften sich frühzeitig.
Für die Türkei erklärt sich dieser Hergang
um so eher, als sie nicht von einem Eroberer-
volke gegründet wurde, das in die Über-
gangsländer zwischen Asien und Europa
einbrach, gleich den Mongolen des Djinghis
Khan und Timurlenk. Sie waren nicht ein-
mal so stark wie ihre Stammesverwandten,
die Seldschucken in Vorderasien. Die Grün-
dung des Osmanischen Reiches ist das Werk
einer kühnen Abenteurerschar, die nur durch
die Tatkraft und Umsicht ihrer ersten Führer
zur Bedeutung einer staatenbildenden Na-
tionalität emporgehoben wurde. Ihren ge-
bräuchlichen Namen erhielt die türkische Herr-
schaft durch Osman I., der, ein kluger Poli-
tiker und großer Soldat, sie bald auf eigene
Rechnung ausdehnte. Bei der politischen
Verwirrung, die auf der Grenzscheide zwischen
dem Seldschucken- und dem Byzantinerreiche
herrschte, scheint die Herstellung einer star-
ken kriegerischen Autorität auch vom christ-
lichen Volke wie eine Wohltat empfunden


und gern anerkannt worden zu sein. An-
fänglich galt die Eroberung keineswegs der
Ausbreitung des Islam. Die Osmanlis
waren die Leute des Osman; das persön-
liche Hörigkeitsverhältnis spielte die ent-
scheidende Rolle. Aber es ward allmählich
Brauch, den Islam anzunehmen, um die
Gemeinschaft enger zu knüpfen. So wurde
die weitere Eroberung zugleich zum Glau-
benskriege. Deutlicher trat diese Färbung
hervor, seit Sultan Orchan das Janitscharen-
heer schuf. Das Bedürfnis, für die fort-
dauernden Kämpfe ein größeres Rekrutie-
rungsgebiet zu schaffen, als es die eigene,
noch wenig ausgedehnte Herrschaft bot, führte
dazu, christliche Knaben von fern und nah
für das Heer, zugleich aber auch für den
Islam, zu erziehen. Sie bildeten die „jeni
Tscheri", die „neue Schar". Dieses künstliche
Ersatzsystem stieg von bescheidenen Anfängen
rasch empor und lieferte dem Heere in der
Glanzzeit bis zu 40000 Mann. Fälschlich
hat man sich im christlichen Europa darun-
ter eine Art von Kinderraub vorgestellt. Im
Gegenteil zog der aufgehende Stern osma-
nischen Waffenruhms mit seinem blendenden
Lichte bald die Jugend aus weiten Kreisen
an. Bei der Schnelligkeit und großen Aus-
dehnung der Eroberungen auf europäischem
Boden aber wurde auch diese Kraftquelle
allmählich unzureichend. Es fehlte am Borne
eigener Volkskraft, die hinter den Heeren
Ströme von Ansiedlern hätte ergießen können,
um das Land wirklich türkisch zu machen.
Die territoriale Rückbildung auf europäi-
scher Seite hatte also nichts Überraschendes,
seit der Sturm der Erobererperiode von
der vergeblichen Belagerung Wiens an all-
mählich abflaute. Man darf nicht vergessen,
daß Österreich im Beginn des xvill. Jahr-
hunderts schon einmal ganz Bosnien und
Serbien besaß. Seit dem letzten russischen
Kriege von 1877 und 1878 nahmen die Un-
ruhen auf der Balkanhalbinsel kein Ende
mehr. Welche Anstrengungen die Pforte
unausgesetzt machen mußte, um die unruhi-
gen Provinzen, zumal Albanien und Make-
donien, einigermaßen in Ordnung zu halten,
ist allgemein bekannt. Sie hielten fast
dauernd ein Viertel bis ein Drittel des ge-
samten Linienstandes der türkischen Armee fest.
Diesem Kräfteaufwande hatte sich inzwischen
eine andere Last im Süden zugesellt, näm-
lich die Aufrechterhaltung des Kalifats.
Sultan Selim I. riß dieses durch die Er-
oberung Ägyptens an sich, wo die letzten
Nachkommen der arabischen Kalifen unter
dem Schutze der Mameluken-Sultane noch in
verblassender Scheinherrlichkeit residierten.
Er ließ sich an ihrer Stelle zum Beschützer
der heiligen Städte erklären und wurde da-
 
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