54 TLLLLLLLL Generalfeldmarschall Frhr. v. d. Goltz:
mit nach altem Ritus das Oberhaupt des
Islams. So lange sich die türkische Herrschaft
unbestritten über Ägypten und Nordafrika er-
streckte, war die Gefahr für den Bestand des
osmanischen Kalifats keine dringende. Sie
ist es erst im vorigen Jahrhundert geworden,
als der allgemeine Verfall der osmanischen
Macht die arabischen Ansprüche wieder er-
wachen ließ und äußere politische Einflüsse
sie heimlich unterstützten. Seit 1872, wo die
Türken das bis dahin vernachlässigte und
wenig beachtete Arabien von neuem besetzten,
wiederholten sich die Aufstände mit kurzen
Unterbrechungen und haben ungeheure Opfer
erfordert. Noch 1911, als der tripolitanische
Krieg ausbrach, stand eine ganze Armee dort
unten und vermochte im Balkankriege nichts
zur Verteidigung des Reiches beizutragen.
Die Mittel für die Behauptung des viel
zu ausgedehnten Staatsgebiets mußte, seit
Vernichtung der Janitscharen durch Mah-
mud II. im Jahre 1826, immer wieder die
mohammedanische Bevölkerung Anatoliens
aufbringen. Sie hat sich darin in einer für
den Bestand ihrer Vorherrschaft besorgnis-
erregenden Weise aufgezehrt. Die Einsicht,
daß ein Ende der Osmanenherrschaft in ab-
sehbarer Zeit auf ganz natürlichem Wege
herbeigeführt werden würde, bewog die jung-
türkische Regierung dazu, als eine ihrer
ersten Maßregeln die Heranziehung der Nicht-
mohammedaner zum Kriegsdienste gesetzlich zu
regeln. Sie ist nach dem großen Zusammen-
bruche von oberflächlicher Kritik ebenso scharf
getadelt worden, als sie früher gefordert wurde,
um die Gleichstellung der Rajah mit den
Moslemin sichtbar zum Ausdruck zu bringen.
Freilich hat sie die große Niederlage nicht
mehr abwenden können. Dazu war die Ein-
richtung, wie alles, was seit der innerpoli-
tischen Umwälzung von 1908 begonnen wurde,
noch zu neu und zu wenig wirksam. —
Nunmehr steht die Türkei vor einer ganz
veränderten Aufgabe. Sie gleicht heute einem
Reiche mit einem ehedem großen Kolonial-
besitz, den es hat aufgeben müssen, so daß es
sich auf sein Mutterland beschränkt sieht.
Der große Gebietsverlust hat die Last ver-
mindert und die Überanspannung der Kräfte
zum Teile aufgehoben. Die Möglichkeit der
Wiedererstarkung ist damit gegeben, wenn
dem Volke die Kraft zu einer solchen inne-
wohnt und das Schicksal ihm die nötige
Ruhe dazu gewährt.
Wenn man die Vergangenheit vergißt, so
stellt sich uns die heutige osmanische Herr-
schaft noch immer als eine äußerlich sehr an-
sehnliche Macht dar. Vorderasien, westlich
der Linie vom Golf von Alerandrette bis
Samsun am Schwarzen Meere hinüber, hat
allein etwa die Größe Frankreichs Das
ganze türkische Kleinasien, also Anatolien mit
Armenien-Kurdistan, Mesopotamien und Sy-
rien-Palästina, doch ohne Arabien, wird auf
einen Flächeninhalt von 22600 deutschen
Quadratmeilen, also die Größe von Deutsch-
land und Österreich-Ungarn zusammen an-
genommen. Es ist noch immer ein Reich,
welches dasjenige Mithridates' des Großen
und Kaiser Justinians an Ausdehnung
erheblich übertrifft. Dabei handelt es sich,
abgesehen von den Hochgebirgen, den Step-
pen von Zor am mittleren Euphrat und der
Salzwüste von Koma um durchweg anbau-
fähiges Land. Das ist wahrlich Raum ge-
nug für die Entwicklung einer bedeutenden
Macht. Einst war dies Land die Kornkammer
des römischen Weltreichs. Es wurde später
das Kernland des oströmischen und hat die-
ses noch ein Jahrtausend aufrechterhalten.
Die gegenwärtige Bevölkerungsziffer ist
schwer zu bestimmen. Am häufigsten wer-
den rund 17 Millionen angegeben. Mit
Konstantinopel und seinem Stadtgebiet wird
man das türkische Reich außer Arabien auf
18 Millionen Bewohner veranschlagen kön-
nen, ohne zu hoch zu greifen. Auch jetzt
noch ist also wahr, was ich ehedem den zahl-
reichen Pessimisten Stambuls bei ihrem oft
wiederholten: „Wir sind verloren!" stets ent-
gegenhielt: ein Volk von solcher Stärke ist
nicht mächtig genug, um andere große Völ-
ker zu unterjochen, hat aber, wenn es in
sich einig ist, hinreichende Kraft, auch dem
stärksten von ihnen auf eigenem Boden siegreich
zu widerstehen. Gebietsverluste allein ent-
scheiden nicht über den Bestand eines Reiches.
Allerdings hat in neuerer Zeit eine Be-
völkerungsabnahme stattgefunden; doch gab
sie sich nur im mohammedanischen Bruchteile
kund und wird schwinden, wenn die Heka-
tomben aufhören, die bisher der Behauptung
Makedoniens, Albaniens und Jemens ge-
bracht wurden. Sie können augenblicklich
zum Teil ausgeglichen werden durch eine
im großen betriebene, sorgfältig geregelte
Abwanderung der Mohammedaner aus den
verlorenen Provinzen nach Anatolien hin-
über. Am wirksamsten aber kann sie be-
kämpft werden durch eine bessere Verwal-
tung, Hebung des Wohlstandes und der
Volksgesundheit; denn leider üben Seuchen
in Vorderasien ihr verheerendes Werk.
Die Periode der äußeren Gefahr für die
Türkei ist indessen noch nicht vorüber, der
Aufteilungsgedanke durch den Zusammen-
bruch ihrer europäischen Herrschaft sogar
rege gemacht worden. Er wird, wenn innere
Unruhen oder Vorgänge wie die Ermordung
des Großwesirs Mahmud Schewket, der
Europas allgemeiner Vertrauensmann war,
sich wiederholen sollten, vielleicht früher als
erwartet, auch in Kleinasien zur Tat werden.
Darum muß die Wiederherstellung der Wehr-
kraft zu Lande und zu Wasser die erste
Sorge der jungtürkischen Regierung sein.
Aber sie kann sich bescheidenere Ziele stecken,
als im Honigmond der neuen Ara, wo, in
phantastischer Überschätzung der eigenen
Kräfte, nicht nur ein konstitutioneller Muster-
staat, sondern auch eine moderne Groß-
machts-Armee und -Flotte gleichzeitig ge-
schaffen werden sollten. Es handelt sich im
wesentlichen jetzt nur noch um die Ver-
mit nach altem Ritus das Oberhaupt des
Islams. So lange sich die türkische Herrschaft
unbestritten über Ägypten und Nordafrika er-
streckte, war die Gefahr für den Bestand des
osmanischen Kalifats keine dringende. Sie
ist es erst im vorigen Jahrhundert geworden,
als der allgemeine Verfall der osmanischen
Macht die arabischen Ansprüche wieder er-
wachen ließ und äußere politische Einflüsse
sie heimlich unterstützten. Seit 1872, wo die
Türken das bis dahin vernachlässigte und
wenig beachtete Arabien von neuem besetzten,
wiederholten sich die Aufstände mit kurzen
Unterbrechungen und haben ungeheure Opfer
erfordert. Noch 1911, als der tripolitanische
Krieg ausbrach, stand eine ganze Armee dort
unten und vermochte im Balkankriege nichts
zur Verteidigung des Reiches beizutragen.
Die Mittel für die Behauptung des viel
zu ausgedehnten Staatsgebiets mußte, seit
Vernichtung der Janitscharen durch Mah-
mud II. im Jahre 1826, immer wieder die
mohammedanische Bevölkerung Anatoliens
aufbringen. Sie hat sich darin in einer für
den Bestand ihrer Vorherrschaft besorgnis-
erregenden Weise aufgezehrt. Die Einsicht,
daß ein Ende der Osmanenherrschaft in ab-
sehbarer Zeit auf ganz natürlichem Wege
herbeigeführt werden würde, bewog die jung-
türkische Regierung dazu, als eine ihrer
ersten Maßregeln die Heranziehung der Nicht-
mohammedaner zum Kriegsdienste gesetzlich zu
regeln. Sie ist nach dem großen Zusammen-
bruche von oberflächlicher Kritik ebenso scharf
getadelt worden, als sie früher gefordert wurde,
um die Gleichstellung der Rajah mit den
Moslemin sichtbar zum Ausdruck zu bringen.
Freilich hat sie die große Niederlage nicht
mehr abwenden können. Dazu war die Ein-
richtung, wie alles, was seit der innerpoli-
tischen Umwälzung von 1908 begonnen wurde,
noch zu neu und zu wenig wirksam. —
Nunmehr steht die Türkei vor einer ganz
veränderten Aufgabe. Sie gleicht heute einem
Reiche mit einem ehedem großen Kolonial-
besitz, den es hat aufgeben müssen, so daß es
sich auf sein Mutterland beschränkt sieht.
Der große Gebietsverlust hat die Last ver-
mindert und die Überanspannung der Kräfte
zum Teile aufgehoben. Die Möglichkeit der
Wiedererstarkung ist damit gegeben, wenn
dem Volke die Kraft zu einer solchen inne-
wohnt und das Schicksal ihm die nötige
Ruhe dazu gewährt.
Wenn man die Vergangenheit vergißt, so
stellt sich uns die heutige osmanische Herr-
schaft noch immer als eine äußerlich sehr an-
sehnliche Macht dar. Vorderasien, westlich
der Linie vom Golf von Alerandrette bis
Samsun am Schwarzen Meere hinüber, hat
allein etwa die Größe Frankreichs Das
ganze türkische Kleinasien, also Anatolien mit
Armenien-Kurdistan, Mesopotamien und Sy-
rien-Palästina, doch ohne Arabien, wird auf
einen Flächeninhalt von 22600 deutschen
Quadratmeilen, also die Größe von Deutsch-
land und Österreich-Ungarn zusammen an-
genommen. Es ist noch immer ein Reich,
welches dasjenige Mithridates' des Großen
und Kaiser Justinians an Ausdehnung
erheblich übertrifft. Dabei handelt es sich,
abgesehen von den Hochgebirgen, den Step-
pen von Zor am mittleren Euphrat und der
Salzwüste von Koma um durchweg anbau-
fähiges Land. Das ist wahrlich Raum ge-
nug für die Entwicklung einer bedeutenden
Macht. Einst war dies Land die Kornkammer
des römischen Weltreichs. Es wurde später
das Kernland des oströmischen und hat die-
ses noch ein Jahrtausend aufrechterhalten.
Die gegenwärtige Bevölkerungsziffer ist
schwer zu bestimmen. Am häufigsten wer-
den rund 17 Millionen angegeben. Mit
Konstantinopel und seinem Stadtgebiet wird
man das türkische Reich außer Arabien auf
18 Millionen Bewohner veranschlagen kön-
nen, ohne zu hoch zu greifen. Auch jetzt
noch ist also wahr, was ich ehedem den zahl-
reichen Pessimisten Stambuls bei ihrem oft
wiederholten: „Wir sind verloren!" stets ent-
gegenhielt: ein Volk von solcher Stärke ist
nicht mächtig genug, um andere große Völ-
ker zu unterjochen, hat aber, wenn es in
sich einig ist, hinreichende Kraft, auch dem
stärksten von ihnen auf eigenem Boden siegreich
zu widerstehen. Gebietsverluste allein ent-
scheiden nicht über den Bestand eines Reiches.
Allerdings hat in neuerer Zeit eine Be-
völkerungsabnahme stattgefunden; doch gab
sie sich nur im mohammedanischen Bruchteile
kund und wird schwinden, wenn die Heka-
tomben aufhören, die bisher der Behauptung
Makedoniens, Albaniens und Jemens ge-
bracht wurden. Sie können augenblicklich
zum Teil ausgeglichen werden durch eine
im großen betriebene, sorgfältig geregelte
Abwanderung der Mohammedaner aus den
verlorenen Provinzen nach Anatolien hin-
über. Am wirksamsten aber kann sie be-
kämpft werden durch eine bessere Verwal-
tung, Hebung des Wohlstandes und der
Volksgesundheit; denn leider üben Seuchen
in Vorderasien ihr verheerendes Werk.
Die Periode der äußeren Gefahr für die
Türkei ist indessen noch nicht vorüber, der
Aufteilungsgedanke durch den Zusammen-
bruch ihrer europäischen Herrschaft sogar
rege gemacht worden. Er wird, wenn innere
Unruhen oder Vorgänge wie die Ermordung
des Großwesirs Mahmud Schewket, der
Europas allgemeiner Vertrauensmann war,
sich wiederholen sollten, vielleicht früher als
erwartet, auch in Kleinasien zur Tat werden.
Darum muß die Wiederherstellung der Wehr-
kraft zu Lande und zu Wasser die erste
Sorge der jungtürkischen Regierung sein.
Aber sie kann sich bescheidenere Ziele stecken,
als im Honigmond der neuen Ara, wo, in
phantastischer Überschätzung der eigenen
Kräfte, nicht nur ein konstitutioneller Muster-
staat, sondern auch eine moderne Groß-
machts-Armee und -Flotte gleichzeitig ge-
schaffen werden sollten. Es handelt sich im
wesentlichen jetzt nur noch um die Ver-