Das Osmanische Reich in Kleinasien
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teidigung der kaukasischen Grenze und die
Sicherung der Meerengen.
Dann erst kann an die materielle Hebung
des Landes gegangen werden. Man spricht
viel von dem Mineralreichtum Anatoliens.
Dem orientalischen Sinn steht der leichte
Gewinn aus irgendeinem verborgenen
Schatz der Erde näher, als der mühsame
Erwerb durch andauernde lange Arbeit an
ihrer Oberfläche. Der Bergbau wird in
Möglichkeit und Ertrag anscheinend weit
überschätzt. In den vierzig Jahren, seit
denen mein Interesse der Türkei gehört, hat
sich noch kein Minenbetrieb von wirklich
großem Erfolge aufgetan. Das Land hat
ihn auch nicht nötig. Es besitzt fruchtbaren
Boden genug und würde als Kornkammer
für das bald übervölkerte Mitteleuropa auch
am ehesten wieder zu politischer Bedeutung
gelangen. Der wahre Reichtum Anatoliens
liegt in seiner Landwirtschaft.
Dabei wenden sich die Blicke vornehmlich
dem Zweistromlande — der babylonischen
Tiefebene, dem Sawäd — zu, dessen legen-
denhafte Ergiebigkeit noch heute fortdauernd
den Unternehmungsgeist reizt, obgleich das
merkwürdige Bewässerungssystem, das sie
hervorrief, längst verfallen und das Land zu
vier Fünfteln Steppe geworden ist. In neuester
Zeit hat der englische Ingenieur Sir Will-
cocks im Auftrage der türkischen Regierung
einen Plan zur Wiederherstellung des alten
Kanalnetzes, zur Wiederbelebung und Wie-
derbevölkerung des Landes in großem Stile
entworfen. Englisches Geld und englische
Technik sollen es zur Kultur zurüüführen,
mohammedanische Untertanen Englands aus
Indien es bevölkern.
Aber es ist nicht notwendig, sich an das
Sawäd, das Wunderland der braunen Erde
zu halten, um die Möglichkeit einer Wie-
dererstarkung des osmanischen Reichs in
engeren Grenzen zu erweisen. Anatolien
hat viel hoffnungsreiches, jetzt ödes Land,
das aus dem Schlummer erweckt werden
kann. Am ganzen Südfuß des Taurus ent-
lang von Aleppo bis nach Mossul und
weiter zum Westfuße der persischen Grenz-
gebirge hin zieht ein 180—200 Inn breiter
Landstrich, der, heute menschenleer, dennoch
sehr wertvoll ist und der künstlichen Be-
wässerung nicht bedarf. Er soll zur Baum-
wollenkultur, mit der in den Ebenen von
Adana recht erfolgreich begonnen wurde,
vorzüglich geeignet sein. Im Altertum
blühte sie in diesen Ländern schon, und wenn
sie seitdem verschwand, so waren zwei
Gründe daran vornehmlich schuld: der Ver-
fall der Verkehrsstraßen und die Unsicher-
heit im Lande. Eine andere Quelle des
Reichtums, die vermutlich ergiebiger sein
wird, als der Bergbau, kann das Naphtha
werden, das namentlich im nordwestlichen
Mesopotamien, bis in die arabische Wüste
hinein verbreitet zu sein scheint.
Das Hochland von Anatolien enthält
solche Naturschätze nicht. An den herrlichen
Gestaden des Schwarzen Meeres finden sich
aber Kohlen, und zum Teil sind die wert-
vollen Waldungen des pontischen Gebirges
noch erhalten. Sonst kommen die Hoch-
flächen nur für den Ackerbau in Betracht.
Häufige Dürre und rauhe Winter beein-
trächtigen ihn wohl, aber immerhin wird er
ebenso ertragreich gemacht werden können,
als irgendwo in Europa. Eine drei-, vier-
fache Bevölkerung kann er jedenfalls ernäh-
ren, sobald er einigermaßen rationell be-
trieben wird. Schon macht sich der seit Sultan
Abdul Hamid ll. neu geförderte Bahnbau
darin kräftig fördernd geltend. Neuzeitliches
Ackergerät und besseres Saatgut werden
eingeführt, und wo der Schienenweg das
Land durchzieht, hebt sich automatisch auch
die Bodenkultur. Großartige Meliorationen,
wie die Bewässerung von 80000 Hektaren
fruchtbarsten Bodens in der Ebene von
Konia und die einer vier- oder fünffach so
großen Fläche südlich des Taurus bei Adana
sind in Angriff genommen und zum Teil
vollendet. Es läßt sich erwarten, daß an-
dere folgen werden.
Die Anatolische Bahn und die Bagdad-
bahn werden, wenn diese letztere in einigen
Jahren — wahrscheinlich 1916 — voll-
endet ist, die Hauptschlagader für die
asiatische Türkei sein. Sie ist ein türkisches
Unternehmen, aber unter deutscher Füh-
rung, als deren treibende Kraft bekanntlich
die Deutsche Bank in Berlin wirkt. Geht
auch das Schlußglied von Basra, wo sie
endet, nach el Koweit am Persischen Golf
an eine fremde — vorwiegend englische —
Gesellschaft über, so stellt sie doch ein be-
deutendes Werk unseres Unternehmungs-
geistes dar, das für die Wiedererstarkung
der uns befreundeten Türkei von grundlegen-
der Wichtigkeit ist. Sie wird mit dem Ver-
kehr auch die Sicherheit ins Land bringen
und es der Regierung ermöglichen, in der
Stunde der Not alle Kräfte des Reiches
zur Verteidigung heranzuzieheü. Diesmal
— 1912 — mußten bei der Unmöglichkeit,
sie auf den Kriegsschauplatz zu transpor-
tieren, diejenigen Kurdistans und Meso-
potamiens völlig unbenutzt bleiben.
Dem Netz der Anatolischen und der Bag-
dadbahn schließt sich im westlichen Klein-
asien das von Smyrna, in Syrien und Pa-
lästina das französische an, das in Verbin-
dung mit der Mekkabahn steht. Das erstere
als vollendet eingerechnet, besitzt die asiatische
Türkei, ohne die arabischen Linien, ein Eisen-
bahnnetz von 8000 Km. Das ist freilich noch
wenig im Verhältnis zur Ausdehnung des
Landes und nur der vierzehnte Teil der
Schienenlänge des noch nicht halb so großen
Deutschlands, das 70000 Km aufweist. Aber
es ist auch nur der Anfang. Ein schnelleres
Tempo im Bahnbau muß jetzt eingeschlagen
werden, um die Erzeugnisse des Reichs den
großen Handelsplätzen zuzuführen, die ihm
geblieben sind: Konstantinopel, Smyrna,
Beirut sowie dem Persischen Golf.-