Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

DOI article:
Goltz, Colmar von der: Das Osmanische Reich in Kleinasien
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0080

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
56

Das Osmanische Reich in Kleinasien



Kein Zweifel — die Möglichkeit der Wie-
dererstarkung des Osmanischen Reiches ist
gegeben. Ob sie benutzt werden wird, kann
nur prophetisch begabter Blick erkennen; denn
die Entscheidung dieser Frage hängt nicht
zum geringsten Teil von den zum Handeln
berufenen Persönlichkeiten ab. Nie sind große
Taten der Geschichte von der Masse des
Volkes ausgegangen, sondern stets von ein-
zelnen Männern. Das erste zur Lösung der
Aufgabe muß sein, den elenden Streit und
Haß der politischen Parteien zur Ruhe zu
bringen, der schon soviel Unheil angerichtet
und sich eben erst in der furchtbaren Explo-
sion Luft gemacht hat, die das Land seiner
bedeutendsten Kraft beraubte. Das moham-
medanische Element Vorderasiens, das im
besten Falle auf Millionen berechnet wer-
den kann, da mindestens an fünf Millionen
Andersgläubige festzustellen sind, ist ohnehin
schon schwach genug, um das Gebäude des
regenerierten Osmanischen Reiches zu tragen.
Bleibt ferner der Zustand Arabiens wie
er bisher war, so bedeutet dieser Besitz im-
mer noch eine Last, die für das Volk zu
schwer — und eine Schwächung — ist. Die
dauernde Aussöhnung der türkischen und
arabischen Bevölkerung ist deshalb die zweite
wichtige Frage für den Bestand des Reiches.
Dem Araber galt bisher das türkische Kali-
fat noch immer als Usurpation. Tradition,
Abstammung, Sitten, soziale Organisation
und Lebensgewohnheit trennten die beiden
Nationalitäten. Der tripolitanische Krieg
führte bei der gemeinsamen Gefahr, die dem
Islam drohte, eine Annäherung herbei. Die
gerechte und geschickte Verwaltung der letzten
zwei Fahre durch den jetzigen Kriegsminister
Izzet Pascha hat bewiesen, daß sich ein mehr
als nur vorübergehender Gottesfriede wohl
erreichen läßt. Der erwachende Panislamis-
mus, der sich freilich in Taten noch nicht
umgesetzt hat, kann in der Zukunft den Eini-
gungsprozeß fördern. Unlösbar ist die Aufgabe
nicht. Gelingt das große Werk, so erfährt das
Osmanenreich eine doppelte Verstärkung durch
die Kräfte der Kernlande, die es von dort
zurückziehen kann, und den Zuwachs, den ihm
Arabien liefern würde. 3 bis 4 Millionen
ausschließlich mohammedanische Anhänger
oder mehr noch wären dem Staate damit ge-
wonnen. Die Erbauung der nicht weniger
als 1303 Kilometer langen, sogenannten
Mekkabahn von Damaskus nach Medina, ein
Werk Sultan Abdul Hamids und seines viel-
gehaßten und vielgeschmähten Günstlings
Arab Izzet Pascha, sowie der Beginn des
Baus von Schienenwegen in Südarabien
sind ein guter Anfang, um auch diese ent-
fernten Gebiete enger an den Gesamtstaat
zu ketten.
Mit dem äußeren Aufbau muß die innere
Regeneration Hand in Hand gehen. Die
einen verlangen heute, der alte mohamme-
danische Fanatismus müsse verschwinden —
er hat sich schon im unglücklichen Balkan-

kriege nirgends mehr gezeigt. Die andern
fordern gerade, er solle wieder belebt werden
— das würde die Spaltung auch ins neue
Staatswesen hinübertragen. Ein drittes ist
weit notwendiger, freilich auch weit schwerer.
Die gebildeten Stände des türkischen Volkes
müssen es lernen, die rein persönlichen Be-
weggründe, die all ihren Urteilen und Hand-
lungen heute noch zugrunde liegen, zu bannen
und die sachlichen an ihre Stelle zu setzen.
Ob ein solcher innerer Umwandlungsprozeß
überhaupt möglich ist, bleibe dahingestellt.
Nur große Erzieher des Volkes könnten ihn
zuwege bringen. Der einzige, den ich per-
sönlich als dazu geeignet kannte, ruht jetzt
im Grabe auf dem Freiheitshügel am Nord-
ausgange von Pera.
Mit der Umwandlung würde sich auch
einstellen, was wichtiger ist als Toleranz
oder Fanatismus: die Achtung vor einfacher,
sachlicher, tüchtiger Arbeit. Leider hat diese
seit nahezu vierzig Fahren gar nichts mehr
gegolten. Dem schlichten dienstlichen oder
amtlichen Erfolge in Heer und Verwaltung
fehlte jede Anerkennung und Wertschätzung.
Persönliche Beziehungen galten alles. Aus
Herrschergelüst und Regierungssystem ist der
Egoismus künstlich großgezogen worden. Viele
Tausende von intelligenten jungen Leuten
wissen heute in der Türkei ganz genau, was
der Großwesir eigentlich zu tun hätte und
was sie an seiner Stelle tun würden, aber
nicht, was im Augenblick und auf dem
Platze, auf dem sie gerade jetzt stehen, ihre
eigene Pflicht ist.
Last not least ist die Verlegung des Re-
gierungssitzes weiter nach Süden auf die
Grenze der arabischen Welt eine unabweis-
bare Notwendigkeit. In Konstantinopel wird
der Blick der Herrscher und ihrer Berater
ohne Frage in erster Linie europäischen An-
gelegenheiten zugewendet bleiben, die keine
Lebensfragen für das künftige Reich bedeu-
ten. Die arabische Reichshälfte wird ihnen
nach wie vor fremd sein und sie dieser, der
sie doch ebenso nahestehen sollten, als der
türkischen. Zudem ist Konstantinopel kein
Ort zum Arbeiten. Es ist eine Sirene, die
bisher noch jede Regierung ins Verderben
gelockt hat, die sich ihr anvertraute.
Noch liegt die Entscheidung, ob weitere
Auflösung, ob Regeneration und Erstarkung
das Los des verkleinerten osmanischen Rei-
ches sein wird, im Dunkel der Zukunft ge-
borgen. Die Wiedererhebung hängt von
der Erfüllung schwerer Vorbedingungen ab.
Wie dem aber auch sei, Deutschland hat alle
Ursache, sie dem unglücklichen Lande aufrich-
tig und herzlich zu wünschen. Die Ent-
stehung einer kräftigen asiatischen Vormacht
zwischen Ägypten und Indien wäre für uns
aus mehr als einem Grunde vorteilhaft.
Doch damit lenken wir in das Gebiet der
hohen Politik hinüber, die hier nicht ihren
Platz hat und auch nicht zu den Aufgaben
eines alten Soldaten gehört.
 
Annotationen