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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 4 (Dezember 1913)
DOI article:
Andreas-Salomé, Lou: Das Bündnis von Thor und Ur: aus dem Kinderleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0639

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in kleines Mädchen ging den
Straßendamm entlang, wo er
gegen den Fluß führte. DieKleine
ging langsam, denn siehatte schon
viele Taten hinter sich. Selbst in dieser
fremden Stadt, in der ihre Eltern doch
erst seit so kurzem zur Sommerfrische wohn-
ten, hatte sie schon wieder eine Menge
Leute beisammen, denen sie Namen und
Schicksal ausdenken mußte und die sie mit
allem möglichen, was sie nun erst ordentlich
an den Schaufenstern für sie wählte, versah.
Damit bekam sie jetzt für eine Weile ge-
nug zu tun. Es wurde auch schon stiller
auf den Straßen, es war merkbar Abend-
brotzeit. Aus einer Seitengasse schoß aller-
dings noch eben ein Junge. Er lief nicht,
er ging, aber seine Schritte stürmten. Und
dies animierte sie nun doch. Zwar lag
ihr nichts daran, jetzt noch den Jungen
hinzuzubekommen; von hinten schien auch
nicht viel an ihm dran. Aber er war un-
gefähr in ihrem Alter, und unwillkürlich
fing sie an zu rennen. Sie kam auch schon
bis ziemlich dicht hinter ihn, auf die Ent-
fernung, in der sie die entscheidenden Merk-
male festzustellen pflegte. Da wandte er
den Kopf. Er hatte das Rennen auf dem
Fußsteig gehört. Und fast hätte man glau-
ben sollen, als ob er hinter sich horche,
wenn er so dahinstürmte. Ein Paar wasser-
blaue Augen sahen ihr entgegen mit einem
etwas drohenden Blick. Sie war sofort
in ihren langsamen Schritt zurückgefallen
und ging sittig, die Augen niedergeschlagen.
Der dumme Junge! Wenn der eine Ah-
nung hätte, wieviel sie in ihrem armen
Kopfe schon zu ordnen hatte, so würde er
wohl nicht meinen, daß ihr an neuen Merk-
malen noch was gelegen sei.
Allerer stürmte nicht mehr, sondern auch
er ging nun langsam. Offenbar horchten
seine beiden Ohren noch nach hinten, und
dann wandte er sich noch zweimal um. Viel-
leicht wähnte er sich wirklich verfolgt? Oder
ihr fiel das nur deshalb ein, weil sie heute
einen Großvater getroffen hatte, von dem
sie sich ausdachte, daß er vor einigen Iah-
Velhagen L Klasings Monatshefte.

ren aus dem Gefängnis entlassen wäre und
sich noch nicht genügend die Achtung seiner
Mitmenschen zurückerworben hätte. Sie
waren jetzt schon nah beim Fluß, und beide
gingen ganz außerordentlich langsam. Ge-
rade wollte sie, während sich ihre Blicke in
seinen mageren Nacken bohrten, mit einer
einzigen ungeheuren Anstrengung seine
Knabengegenwart mit der Großvater-
zukunft — alle beide in denselben Men-
schen — zusammenschweißen, als er sich
nicht nur umwandte, sondern stehenblieb.
„Wohnst du hier?" fragte er streng.
Sie blickte über den Fluß, wo es gar
keine Häuser mehr gab, und sagte: „Nein,
wo denn?"
Er fragte ebenso inquisitorisch weiter:
„Was hast du dann hier zu suchen?"
„Hier nichts," antwortete sie.
„So. Warum rennst du dann hinter
mir her?"
Bisher hatte sie mechanisch geantwortet,
es war ihr gleich, was: denn sie mußte
ihn nun von vorn mit dem Großvater ver-
gleichen. Nun erst begriff sie eigentlich,
daß sie im Gespräch mit ihm war, und ver-
fügte sich vom Großvater zurück zu dem
Knaben.
„Weil du mir gefällst," sagte sie, ihn
sich befriedigt ansehend.
„Von hinten?" fragte er mißtrauisch.
„Von hinten sahst du aus, als ob du vor
jemand davonrenntest."
Er trat einen Schritt näher auf sie zu:
„Was?! Unsinn! Vor wem sollte ich aus-
kneifen?" sagte er wütend.
„Das kann ich ja nicht wissen. Aber
du bist ja vielleicht ein Heimlichtuer und
wirst vielleicht ein Verbrecher werden."
Er stand mit offenem Munde vor
ihr.
„So frech wie du ist mir noch nie ein
Frauenzimmer vorgekommen. Aber soviel
wirst du wohl wissen, daß ich dir mit einer
Handbewegung alle Knochen entzweischla-
gen kann!"
„Warum denn?" fragte sie sanft. „Ich
habe doch gar nichts gegen dich. Da
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xxvm. Iahrg. 1913/1914. i. Bd.
 
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