LEW Lou Andreas-Salome:
530 WEZ
sag' mir doch lieber, warum du hierher
läufst, wo doch niemand mehr wohnt?"
Er lächelte etwas.
„Niemand? Aber doch vielleicht ich."
Und er machte eine Pause. „Wer bist
du denn eigentlich? Gehst du denn nicht
zum Abendbrot nach Hause?"
„Ich habe mir was eingesteckt," sagte
sie. „Meine Mutter ist hier in den Bade-
ort gefahren, wo wir eine kranke Tante
haben, da muß sie oft hin. Wegen der
Tante wohnen wir hier für einige Wochen,
dann reisen wir wieder nach Haus."
Er sah sie zweifelnd an.
„Ist es ganz sicher, daß du dann wieder
wegreist? Das ist mir nämlich die Haupt-
sache!"
„Ja, das ist sicher." Sie zog aus der
Tasche ein Butterbrot, in das sie hineinbiß.
„Wenn du dir nichts eingesteckt hast,
kannst du ein Endchen davon haben," schlug
sie vor.
„O nein, unmöglich! Ich muß hun-
gern."
Sie machte große Augen.
„Das kann ich nicht verstehn!"
Da meinte er nachsichtig: „Nein, das
können Frauen auch nicht so leicht verstehn,
daß man sich alles selbst schaffen will und
daß man das manchmal nur heimlich und,
wie du selbst sagst, wie ein Verbrecher tun
kann."
„Geht das nur dann, wenn man hungrig
ist?" fragte sie verständnislos.
„Begreifst du denn nicht, daß man gern
darauf verzichtet, sich von andern satt-
machen zu lassen? Ich war heute bei einem
Freunde eingeladen und war auch dort.
Aber vor dem Essen bin ich wieder losge-
zogen, obgleich es gerade Pfannkuchen mit
Mus gab."
„Und jetzt?" fragte sie kauend.
„Jetzt gehe ich dorthin, wohin ich mich
vor der Kultur zurückgezogen habe."
Damit ging er weiter.
Das kleine Mädchen hatte den Groß-
vater vergessen und folgte ihm um seiner
selbst willen. Er ließ es auch offenbar
zu. Er sagte: „Wenn du wirklich in eini-
gen Wochen wieder fortgehst, kannst du
mich gern ein Stück begleiten. Du siehst
mir so aus, als ob du schweigsam wärst.
Geschwätzige Frauenzimmer hab' ich nicht
gern, merk' dir das!"
Sie gingen ein Stück abschüssige Wiese
entlang, die sich unweit des Flusses in fel-
sige Ufer verlor. Dort fing der Junge
an, rascher auszuschreiten, und ehe sie sich
dessen versah, war er plötzlich vor ihren
Augen verschwunden. Sie dachte nun
eine Minute darüber nach, ob das ein
wirklicher Junge gewesen sei. Aber noch
ehe sie darüber schlüssig wurde, erblickte sie
jemand, der vorher nicht dagewesen war.
Ans Flußufer vor ihr trat, anscheinend
aus einer Höhlung, ein Geschöpf mit
einem Fell um die Schultern und einer
wüsten Fellkappe auf dem Kopf, barfuß
und eine Art Keule in der Hand. Sie
sah ihn wieder nur von hinten, denn er
blickte aufs Wasser. Aber ohne viel Ver-
wunderung tat sie einige Schritte vor-
wärts und fragte: „Bist du noch derselbe
Junge? Wer bist du eigentlich, wie
heißt du?"
„In der Welt heiße ich Thorwald", ant-
wortete er und stützte sich auf seine Keule.
„Und du?"
„Ich heiße immer Ursula."
„Also, Ursula, höre zu! Bis hierher
durftest du mich begleiten. Wenn du aber
an dieser Stelle hier von der Wiese zum
Fluß hinunterschreitest, bist du ein Kind
des Todes, denn hier beginnt mein Reich.
Aber schau es dir von oben an."
Sie stand gehorsam einen Augenblick,
aber noch während sie auf ihn niederschaute,
wandten sich ihre Gedanken unwillkürlich
wieder zu ihrer früheren Beschäftigung
zurück und taten den Knaben mitsamt sei-
nen Katzenfellen mit hinein zu den andern
Leuten, die sie an diesem Nachmittage auf-
gesammelt hatte.
R R R
Dasselbe kleine Mädchen ging am näch-
sten Nachmittag nicht zum Fluß hinunter,
sondern durch die Stadt. Durch das Tor
eines Schulgebäudes, aus dem Knaben mit
ihren Ranzen nach Hause liefen, kam der
Direktor gegangen, und als er des kleinen
Mädchens ansichtig wurde, blieb er stehn
und gab ihr die Hand.
„Wie geht es bei euch?" fragte er. „Ist
die Tante kränker geworden?"
„Ich glaube nicht, aber Mutter ist wie-
der hin," sagte sie.
Er blickte freundlich in ihr Gesicht, und
man fühlte wohl, daß er trotz seiner teil-