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Volksgemeinschaft: Heidelberger Beobachter, NS-Zeitung für Nordbaden (3) — 1933 (Mai-Juni)

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Nr. 103-131 (2. - 31. Mai)
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https://doi.org/10.11588/diglit.70557#0160
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DienStag, 16. Ma! 1933.


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Vvtsf aas dem Kreis
Kdslsysim
Nach den Tagen des Feierns geht es
wieder an die Kleinarbeit. Der Am- und Auf-
bau nimmt seinen Fortgang. Die neue Ge-
meindevertretung in Adelsheim ist bis auf
den letzten Mann nationalsozialistisch. Zen-
trum und SPD hakten freiwillig auf die
Einreichung einer Liste verzichtet. Auch in
den übrigen Orken des Kreises ist unse Ein
fluh maßgebend gesichert. In Sennfeld
ist das rote Regiment nun endgültig über-
wunden, indem Pg. Stühpunktleiker Rein 2,
jetzt 1. Gemeinderat und stellvertretender Bür.
germeistex geworden ist. 3m Gemeinderat be-
findet sich jetzt nur noch ein einziger Sozial-
demokrat. Auch der Bezirk srat ist jetzt
überwiegend von Nationalsozialisten besetzt.
Mit erfreulichem Eifer wird jetzt an den
Ausbau der SA gegangen durch Gründung
von SA-Reserven. Pg. Amtsgerichksrat Dr.
S ch m i d t - N ar i s ch k in. der Führer der
SA-Reserve in unserem Kreis, konnte in
Adelsheim über 40 Mann als Mitglieder
aufnehmen, desgleichen in Osterburken 30.
Auch in Seckach und anderen Orten wurden
nach vorhergegangenen Versammlungen, an
denen auch Sturmbannführer Große teilnahm,
Ortsgruppen gegründet.
Wenn wir immer schrieben von den Kämp-
fen unserer Parteigenossen im schwarzen
Iagstkal, und dabei der Hoffnung Ausdruck ga-
ben, daß auch die dortigen Widerstände über-
wunden werden würden, so ist diese Hoff-
nung in den letzten Tagen zu einem erheb-
lichen Teil Wirklichkeit geworden. Die Feier
des 1. Mai hak hierzu viel beigekragen. In
Krautheim sah man zum ersten Male
das Braunhemd und die Hakenkreuzfahne bei
der Kirchenparade, und in der Kirche konnte
man eine treffliche Predigt über den „Adel
der Arbeit" hören. Bei dem Bankett am
Abend war auch die Geistlichkeit vertreten,
sowie der Bürgermeister. Aehnlich war es
in Gommersdorf. Auch dort marschiert
jetzt die SA und alles stellt sich unter das
Hakenkreuzbanner. So erfreulich dieser Um-
schwung ist, so bleiben noch immer hie und da
schwarze Störungsversuche, die zu beseitigen
sind. In Krautheim gaben einige Vor-
kommnisse am Abend des 1. Mai und früher

dem Kommissar Pg. Meixner Veranlassung,
mit den beiden Geistlichen und dem Bürger-
meister deutliche Worte zu reden, worauf der
Bürgermeister in Urlaub ging. Nun mischte
sich der Adelsheimer Landrat Viernelsel in
die Sache und hielt es für angebracht, den
Bürgermeister von seinem Vorhaben abzuhal-
ken mit dem Bemerken, der Kommissar werde
doch bald verschwinden. Aber scheinbar war
dem Landrak die Sache nachträglich doch nicht
geheuer, denn er machte sich die Mühe und
suchte den Bürgermeister persönlich in Kraut-
heim auf (angeblich im Wagen des kathol.
Pfarrers von Berolzheim!).
Im übrigen geht im Frankenland die
Idee Hitlers ihren Weg. Auf der Grünkern-
tagung in Boxberg konnten mehrere Teil-
nehmer für die Sache neu gewonnen werden,
worüber bald mehr berichtet wird.
In Krautheim gründeten Pg. Thren und
Pg. Meixner anläßlich einer landw. Tagung
nun auch eine NS-Bauernschaft.

Die Amtszeit des Bürgermeister Bardon
ist abgelaufen. Wertheim hak seine Sensa-
tion. Pardon. . . da stimmt was nicht bei
den verflossenen Machthabern des Rathau-
ses. Die Roten und Oberroken haben aus-
regiert, sie fehlen im neuen Skadtparlamenk,
es fehlen aber nicht nur sie allein, es fehlen
auch „weiße" Sachen, unschuldsvolle weiße
Sachen aus Schreibpapier. Zehn Pfennig
vielleicht im Werk, aber das, was auf dem
billigen Papier geschrieben stand, das ist un-
bezahlbar. Bei Behörden nennt man beschrie-
benes Papier zumeist Akten, . . . und diese
Akten haben sich eine Tarnkappe übergezogen,
denn sie sind nicht mehr zu sehen, sie sind ver-
schwunden. Wo sind sie. . .? Wie heißt es
in jenem Lied. . . „Wer weiß, ob wir uns
Wiedersehn. . .?" Hoffen wir das Beste. So
ein verschwundenes billiges Papier kann
teuer zu stehen kommen. . .
Es gibt da allerhand zu klären. Kleine
Ursachen, große Wirkungen! Hören wir. Es
gab da einmal einen Sandsteinfelsen jenseits
der inzwischen in forschem Schwung gleich-
geschalteten sagenhaften Mainlinie. Eines

Weihe der „Hindenburg-Bucke" und
„Hiller-Eiche"
D a u d e n z e ll.
Trotz der schlechten Witterung hatten sich
am vergangenen Sonntag zur Weihe der
„Hindenburg-Buche" und „Hitler-Eiche" zahl-
reiche Gäste aus der Umgegend eingefunden.
An der Feier nahmen keil: SA Sturm 2/112,
Mokorsturm 1/112, eine Stahlhelmgruppe, der
Freiwillige Arbeitsdienst Neckarschwarzach,
Schul- und Hitlerjugend, Vertreter des Forst-
amtes, die Vereine von Daudenzell sowie die
gesamte Bevölkerung. Gegen 1.30 Uhr be-
wegte sich ein großer Festzng unter Voran-
tritt der Skandarken-Kapelle 112 und des
Spielmannszuges 2/112 dem Walde zu. An
der „Hitler-Eiche" begrüßte Bürgermeister
Maßholder die vielhunderkköpfige
Menge. Forskrak Ebner weihte dann die
größte Eiche des Gemeinöewaldes unse-
rem Volkskanzler Adolf Hitler und die
„Große Buche" unserem Reichspräsidenten
von Hindenburg und nahm beide Bäume in
forstamtlichen Schutz. Anschließend sprach
Haupklehrer Sattler über Hitler als Füh-
rer und Staatsmann. Mit dem Horst Wes-
sel-Lied fand die Feier an der Hitler-Eiche
ihren Abschluß. Der Festzug marschierte dann
geschlossen zur „Hindenburg-Buche", wo Pfar.
Esselborn in trefflichen Worten Hitler
als Kämpfer für die deutsche Einheit und als
Führer in die Zukunft kennzeichnete. Das
Deutschlandlied beendete die eindrucksvolle
Feier, die durch Lieder des Gesangvereins und
Sprechchöre der Schuljugend in sinnvoller
Weise bereichert wurde.

schönen Tages leuchtete dort herab ein riesen-
großes Hakenkreuz ins Main-Taubereck. Es
war um Pfingsten 1929. Juda schäumte! Der
verjüdelte Fremdenverkehrsverein schäumte,
es schäumte der judenhörige, schlafmützige
Spießbürger, es schäumte das Wertheimer
Skadtoberhaupk, es schäumte das badische Be-
zirksamt, es schäumte das bayerische Bezirks-
amt, es schäumte die Tauber, es schäumte der
Main mit seiner historischen Linie, es
schäumte die Stadt, es schäumte das Land,
es schäumte, es schäumte . . . alles. Nur dis
es mit Hitler hielten, die schäumten nicht, die
hielten sich den Bauch vor Lachen, voran die
„Attentäter" Kreß, Böhringer und Vogt. Es
kam zum Krieg. Kreß geriet auf Geheiß der
Juden in Gefangenschaft, der arme Haken-
kreuzfelsen wurde zum Tode verurteilt und
„geschlichtet" . . . ein paar Pfund Pulver
sprengten ihn gegen den Himmel. Den Ju-
den war Gerechtigkeit widerfahren, die hirn-
verblödeten Gojims waren meilenweit den
armen „bedrohten", lieben, guten und c b jo
„hochanständigen" Juden in den Hintern ge-
krochen.

VarSon, mein Herr...wo W tie Akten?

Dann kam der Friedensschluß und die
dicke Kriegsentschädigung für die Sachbeschä-
digung aus dem Skadtsäckel, lies Tasche des
Steuerzahlers. Man beachte den von uns
jetzt genau und amtlich feflgestellken Dornen-
weg von 100 Mark. Ein bayerischer Gendar-
meriebeamker begibt sich zu dem Kreuzwert-
heimer Grundstücksbesitzer und legt ihm 100
Mark auf den Tisch des Hauses. Diese 100
Mark hak das bayerische Bezirksamt in
Marktheidenfeld dem Beamten auf die flache
Hand gelegt. Das bayerische Bezirksamt Hal
die 100 Mark als Liebesgabe vom badischen
Bezirksamt in Wertheim überwiesen bekom-
men; dem badischen Bezirksamt fielen diese
100 Mark vom Wertheimer Bürgermeister-
amt in den Schoß . . . nnd das Bürgermei-
steramt legte der Skadkkasse IVO Iudassilber-
liNge als Eonkributivn auf oder war es viel-
leicht anders . . . na, in den Akten wird es
ja stehen. Aber wo sind denn nur die Akten?
Akten über den Fall waren da, das Hal
der Bürgermeister auf Befragen in einer Ge-
meinderaksfltzung einst zugegeben mit den
Worten: „Dort in dem Schrank da liegen die
Akten und es kann jederzeit Einsicht genom-
men werden".
Jetzt wollten wir Einsicht nehmen, aber
beim Wollen ist's geblieben... die ominösen
Akten sind einstweilen verschwunden!
Roch etwas. Es gab da einmal vor lan-
gen Jahren einen Beleidigunasprozeß Forst-
meister v. K. gegen Bürgermeister B. Letzte-
rer verlor den Prozeß und mit ihm die Wert-
heimer Steuerzahler . . . denn die Kosten
wurden aus der Skadkkasfe berappt. Aber
mit schwarz-roter Rückendeckung, . . . eine
Gemeinderatssitzung gab den offiziellen Se-
gen dazu. Was sagske nu.Vorerst nichts,
auf Wiederhören. . . wann ... wo ... wie
. . abwarken. —
Der Heidelberger Motorrad-Klub im ADAT
bat zu einer beute abend in der Frank'schen
Weinstube, Vabnhofstr. 9 stattfindenden außer-
ordentlichen Mitgliederversammlung eingeladen,
an der auch Nichtmitglieder teilnehmen können.
Tagesfragen des Kraftfahrsportes, Gleichschal-
tung der Verbände, Steuerfragen und die Ver-
bände und der NSKK sind die Punkte, über die
Herren des Eauvorstandes und der Geschäftsfüh-
rung Aufklärung geben werden. Als Motorrad-
fahrer-Ortsgruppe des ADAT. dient der HMC.
nicht allein der Vereinsmeierei, sondern ist in
erster Linie ein Sportklub geblieben. Alljährlich
bringen sportbegeisterte Fahrer eine Reihe von
Preisen nach Hause. Lerne Deutschland kennen ist
das Kennwort der Tourenfahrten und so bringen
uns die Pfingstfeiertage über Rothenburg, Din-
kelsbühl an den Main und in den Spessart. Am
18. Juni 1933 findet eine interne Fuchsjagd statt,
> zu der auch alle Teilnehmer der Dienstag-Veran-
staltung gleichberechtigt eingeladen werden. Mit
seinem Kameradschaftsgeist und seiner sportlichen
Disziplin will auch der HMC. der Nation dienen.
vöiUWsösseni
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'12. Fortsetzung.
Don den ersten taufend Soldaten winkten nur
wenige, die meisten waren müde, müde nicht
nur in den Füßen. Aber in diesen Müden
geschah bald die Wandlung, sie richteten alles
in sich auf, was gestern noch einstürzen und
zweifeln wollte. Verschlammte Planwagen
rollten hinter dem Fußvolk, treue Pferde
schnaubten in den Sielen. Die Soldaten hat-
ten ihre Karren und dampfenden Feldküchen
bekränzt: mit Aesten voll Herbstlaub, mit zap-
pelnden Fähnchen, mit billigen Girlanden, zu-
weilen gar mit kindlichem Spuk; denn auch
Hampelmänner sah rch bunte Püppchen, schau-
kelnde Lampions und drollige Bilder, die man
wohl aus den Kantinen und Sölöatenheimen
mitgenommen hatte. Es war schon gut, daß
die Geprüften mit diesem Schabernack etwas
offenbaren wollten. Es war schon heilsam, daß
ihre Seelen das Grauen der Verwesung ver-
borgen hielten: nicht, als ob sie das Fürchter-
liche verschweigen und vergessen wollten, nicht,
als ob die Grausamkeit von vier Jahren nur
ein Schützenfest gewesen sei. Nein, sie würden
noch alle Rechtfertigung fordern, sie würden
sich noch streiten wollen um die Hintergründe
ihres Schicksals. Aber jetzt, aber heute, da sie
heimkamen, da sie sich zurückfanöen zu denen,
die sich um sie geängstigt hatten, da sie Liebe
trafen statt Fluch, heute wollten sie erkennen,
daß ihr verzweifeltes Werk einen Triumph
verdiente. Wo blieb denn die Niederlage,
wenn der Sieg der andern kein Heldenstück
war? Diese feldgraue Flut, die sich ihrer Ebbe
nicht zu schämen brauchte, hatte sich von einem
Gegner getrennt, der nur noch mit falschen
DSürfeln spielte.

hakten sie kämpfen tnüssen. Und als ich
mich nach den Gesichtern der Heimat umblickte,
sah ich nur Tränen. Einen hatte ich ganz ver-
gessen: Den Bärtigen an meinem Arm!
„Kamerad, kannst du alles sehen?"
Der Alte blieb stumm; mochte er stumm blei-
ben, sein Schweigen hatte viel zu sagen.
Offiziere ritten vorüber, oft grüßten sie lä-
chelnd ins Volk. Kleine Protzen mit Feldge-
schützen kamen, Artilleristen zu Fuß, zuweilen
auch junge Krieger mit Mullbinden um den
Kopf oder mit geschienten Armen. Und end-
lich wieder Musikanten. Ihr Dirigent hob
den Taktstock, der gewaltige Heereszug brem-
ste, ein Leutnant galoppierte über die Straße:
„Das Ganze halt!"
Irgendwo mußte ein Pferd gefallen sein,
andre sagten, auf der Dombrücke habe ein Mu-
nitionswagen zwei Rüder verloren. Da die
Truppen stille standen, gab's ein Tauschen und
Grüßen, inniger als zuvor. Ich sah junge
Mädchen, die sich willig umarmen ließen, ich
sah blasse Witwen, die Zigaretten und Astern
verschenkten. Und ein Gastwirt teilte schäu-
mende Biergläser aus, auch Sprudelflaschen
und Tabakwürste. Mehr hatten diese Wohl-
täter Nicht, man lebte ja immer noch nach Mar-
ken.
Jetzt spielte die Musik mit blanken Messing-
trompeten und rammenden Trommeln. Und
alle sangen mit, Soldaten und Offiziere,
Frauen und Kinder, überall auf den Straßen,
überall in den Fenstern und Türen: Haltet
aus, haltet aus im Sturmgebraus-l
Auch ich wollte singen, aber meine Lippen
waren trocken wie Stroh, meine Lungen for-
derten Luft, atmen mußte ich, doch war dieses

KLE SrsWtM KM L Wr_.KtwlA...M .M MEKches Kamen nnö

Schlucken. Meine Ohren schienen taub, so wild
brauste das Singen und Rusen. Das war kein
Chor von hunderttausend Menschen mehr, das
war ein grimmiger Sturm, da geschah ein Na-
turereignis, da hatten Kräfte ihre Kesseln zer-
schlagen, da waren Erdrosselte wieder zu Luft
gekommen: Zeiget ihr, zeigt der Welt, daß wir
fest zusammenstehn-!
Ob ich diesem Orkan von Stimmen glauben
durste? Hatten mich die gleichen Gefickter nicht
entsetzt, als sie vor Tagen noch den Unterwelts-
schreck hilflos geschehen ließen?
Die Pferde vor den Protzen und Planwagen
scheuten, beherzte Kanoniere mußten in Sie Zü-
gel greifen. Und am Firmament trudelten toll-
kühne Flieger, schlugen Purzelbäume über dem
Dom. Diese hellgelben Mücken waren nicht zu
zählen, sie waren auch nicht zu hören, weil das
Lied auf der Erde den Donner ihrer Motore
niederkümpfte.
Als die Musik zu Ende war, jubelten «nd
klatschten die Menschen. Und als der gigantische
Troß sich wieder zum Rhein hin bewegte, wurde
es stiller im Volk. Wieoer kamenRe.ter und In-
fanteristen, wieder Ballonzüge, schwere Ge-
schütze, Panzerwagen, Protzen, Automobile mit
dem roten Kreuz, endlich gar ein General zu
Fuß. Dieser greise Soldat starrte auf die Pfla-
stersteine, und als sich der Jubel noch einmal
schwach erhob, nickte er ernst. Es war das Nik-
ken eines Zertrümmerten.
Hinter meinem Rücken erzählte ein Mann,
auch auf den andern großen Straßen Kölns
seien die Heere der Feldgrauen in mächtigen
Strömen angekommen. Ein zweiter wußte
schon, daß in Bonn, Koblenz, Mainz undgLud-
wigshafen die Krücken zu schmächtig seiew für
den Anprall der Heimkehrer. o
Die warme Sonne stand über uns, die Uhr
am Postgebäude zeigte auf zwölf. Warteten
wir schon vier Stunden? Gar fünf? Der Hee-
reszug war immer noch nicht zu Ende, er würde
auch morgen und übermorgen noch nicht zu En-
de sein. Immer noch stampfte Fußvolk, polterte
Artillerie, wieherten Pferde, rollten Wagen,
knallten Motore. Und die Menschen wurden
nicht müde mit Warten und Rufen und Win-
ken; die Straßen brodelten, die Luft schmeckte
nach Staub und Schweiß. Und am Himmel die
schnarrenden Mücke» der Kampfflieger, jetzt

in Ketten geordnet wie Zugvögel, zu denen sich
auch Bombengeschwader wie drohende Habichte
gesellten.
Ich wollte den Bärtigen, der sich immer fe-
ster an mich klammerte, fragen, ob wir gehen
sollten. Aber ich spürte, wie er sich plötzlich los-
riß, ich hörte, wie er schrie und heulte: „Kame-
rad, da sind sie, da kommen sie .... I"
Ich konnte ihn nicht halten. Er schlug sich ukit
seinen haarigen Fäusten den Weg frei und
rannte einem bepackten Trainwagen entgegen.
Ich Hinkte langsam hinterher, denn meine
Beine waren lahm geworden. Der Alte sprang
auf den Bock des Wagens, aber der Kanonier,
der die Zügel hielt, gab ihm keine Hand. Ich
lief nebenher und hörte, wie der Bärtige mit
bröckelnder Stimme fragte: „Wo ist der Fähn-
rich von Lankwitz?"
Der Kanonier legte stumm die Zügel in
seine Hand, mit der rechten griff er hinter sich
und Sog die braune Zeltbahn ein Stück vom
Wagen: Ein Sarg stand da, eine kleine, grobe
Kiste, wie sie zehntausendweise für die Fron-
ten geliefert worden war.
Der Bärtige kaute an seinem «offen Schnäu-
zer: „Der Fähnrich — tot?"
Der Kanonier antwortete bitter: „Er wollt«
sich nicht entwaffnen lassen, da haben ihn die
andern erschossen!"
Der Bärtige stürzte vom Vock, ritz die
Mütze vom Schädel und baute sich in stram-
mer Haltung auf, bis der Wagen vorüber
war. Dann rannte er fort, tauchte unter im
Gedränge, ohne Gruß, ohne Abschied.
Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Ich werde ihn niemals verleugnen.
Wohin trieb ich selber? Ich durste mich nicht
einsam fühlen, ich war es schon gewöhnt,
Menschen von meiner Seite zu verlieren.
Während ich das dachte, hörte ich den Zuruf
des Volkes nicht mehr; zwischen Wachen und
Träumen schwamm ich im grauen Katarakt
der Soldaten und als ich mich selber weckte,
war ich schon am Domplatz, umfangen vo»
einer Sintflut von Geräuschen: Schreiend«
Massen, läutende Glocken, trampelnd« Pferd«
trompetende MusiL
 
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