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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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2. Blatt. — Samstag, 6. März 1980.
Ökonomischer und religiöser
Sozialismus.
Von Professor Ehrenberg.
Die sogenannte gelehrte Literatur bemüht sich seit
einigen Jahrzehnten nachzuweisen, daß die sozialistischen
Ideen immer schon dagewesen und somit kein Eigenerzsugnis
des neunzehnten Jahrhunderts seien. Die bisherige
Wissenschaft fühlt sich ja erst dann wohl, wenn sie es
fertig bringt, irgend einen Glauben zu untergraben. So
hat sie jetzt einige Jahrzehnte lang, und nicht ohne Erfolg,
am sozialistischen Glauben genagt, geradeso wie sie zuvor
und gleichzeitig den religiösen Glauben untergraben hat.
Aber der gesunde Menschenverstand läßt sich nicht so
leicht abspeisen. Wir geben gern zu, daß sozialistische Ge-
fühle und Anschauungen in Aegypten und Griechenland,
zur Zeit Mohammeds und im Mittelalter gehegt worden
sind. Aber wir haben es da stets mit ethischen Gefühlen
zu tun, mit dem Mit—leiden, oder dem Kampf gegen den
Mammon, und mit gewissen Vorschlägen und Handlungen
zur „Besserung der Zustände". Immer aber ist die leidende
und unterdrückte Menschheit dabei nur der behandelte
Teil, dem der andere Teil der Menschheit, der nicht unter-
drückte, Hilfe zu reichen bestrebt ist. Nicht anders steht es
auch mit dem leidenschaftlichen und großen Sozialismus
der jüdischen Propheten, von denen sich aller religiöser
Sozialismus herleitet.
Dem gegenüber ist der Sozialismus des neunzehnten
Jahrhunderts, im besonderen der Marxismus, etwas
ganz Anderes und Neuartiges. Marr entdeckt die Selbst-
tätigkeit der Unterdrückten und behauptet eine selbst-
tätig wirksame Befreiung der Leidenden. So schuf
er den ökonomischen Sozialismus. Die Ausgebeuteten,
die sogenannten Proletarier, werden durch die ökonomische
Entwicklung eine Macht wider das entrechtende Prinzip,
das Kapital. Eine gradlinige Entwicklung führt die
wirtschaftliche Entwicklung zur Selbstentleibung des
Kapitals. Und der Egoismus der Entrechteten wird zu
einer Waffe für den Frieden der Zukunft.
Auch hier also ist der letzte Zweck ein idealer; er ist
vom vorhergegangenen sogenannten utopischen Sozialis-
mus übernommen. Aber Marx folgt dem utopischen Denken
nur insoweit, als er von ihm den leidenschaftlichen Schwung
entlehnt, der sein Denken zur Anschauung einer Zukunfts-
gesellschafft führt. Nur der Rahmen des Marxismus ist
utopisch, sein Inhalt ist entwicklungsgeschichtlich und
wie man sagt wissenschaftlich. Und Marx hat wohl geglaubt,
durch den wissenschaftlichen Inhalt auch die utopische Form
beseitigt zu haben. Gerade aber die Wissenschaft ward ihm
dadurch gefährlich. Der Utopist ist letzhin unangreifbar,
denn er will seine Idee nicht beweisen. Der Wissenschaftler
aber muß recht behalten, setzt sich daher allen Widerlegungs-
möglichkeiten aus. Dem Nichtwissenden scheint es so, als
gebe Wissen Macht; aber der Wissende weiß, daß Wissen
zur Ohnmacht verurteilt, und strebt daher zum Nichtwissen,
zur Naivität, wie man sagt, zurück. So erging es auch dem
Marxismus. Die Wissenschaft hat an seinem Wahrheits-
anspruch genagt, und so entstand der Revisionismus.
Kein Wissen ist unumstoßbar, jede Theorie hängt von ihrer
Zeit und ihrem Milieu ab. Jede Art von Biblizismus
wird Widerspruch ernten, erfolgreichen Widerspruch. Die
Freiheit des Geistes empört sich wider sie. Von diesem
Geschick blieb der ökonomische Marxismus nicht unberührt,
und heute, nach der Revolution, ist seine Glaubwürdigkeit
stark zusammengeschmolzen. Der bürgerliche Kultur-
und Sittlichkeitssozialismus auf der einen Seite, der
terroristische Anarchismus mit seinem Kind, dem Räte-
system, auf der anderen Seite haben den Geltungsraum
des Marxismus empfindlich eingeschränkt. Man muß sich
noch wundern, in wie starkem Grade er sich gleichwohl
erhalten konnte. Und es unterliegt daher keinem Zweifel,
daß sein Wahrheitsgehalt sehr groß sein muß. Die
tatsächliche Entwicklung hat ihm k in einem Maße Recht
gegeben, wie wenige es selbst in sozialistischen Kreisen noch

Romeo und Julia auf dem Dorfe.
(10. Fortsetzung.)
Vrenchen lochte ihn nur noch mehr on und hauchte dazu aus
klangvoller Kehle einige kurze mutwillige Lachköne, welche dem
armen Sali nicht anders dünkten, als der Gesang einer Nachtigall.
„O du Hexe!" rief er, „wo hast du das gelernt? welche Teufels-
künste treibst du da?" „Ach du lieber Gott!" sagte Vrenchen mit
schmeichelnder Stimme und nahm Salis Hand, „das sind keine
Teufelskünste! Wie lange hätte ich gern einmal gelacht! Ich habe
wohl zuweilen, wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen
müssen, aber es war nichts Rechtes dabei: setzt aber möchte ich
dich immer und ewig anlachen, wenn ich dich sehe, und ich möchte
dich wohl immer und ewig sehen! Bist du mir auch ein bißchen recht
gut?" „O Vreeli!" sagte er und sah ihr ergeben und treuherzig
in die Augen, „ich habe noch nie ein Mädchen angesehen, es war
mir immer, als ob ich dich einst lieb haben müßte, und ohne daß
ich wollte oder wußte, hast du mir doch immer im Sinn gelegen!"
„Und du mir auch," sagte Vrenchen, „und das noch viel mehr; denn
du hast mich nie angesehen und wußtest nicht, wie ich geworden bin;
ich aber habe dich zuzeiten aus der Ferne und sogar heimlich aus
der Nähe recht gut betrachtet und wußte immer, wie du aussiehst!
Weißt du noch, wie oft wir als Kinder hierher gekommen sind?
denkst du noch des kleinen Wagens? Wie kleine Leute sind wir
damals gewesen und wie lang ist es her! Man sollte denken, wir
wären recht alt." „Wie alt bist du jetzt?" fragte Sali voll Ver-
gnügen und Zufriedenheit, „du muht ungefähr siebzehn sein?"
„Siebzehn und ein. halbes Jahr bin ich alt!" erwiderte Vrenchen,
„und wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig?"
„Woher weißt du das?" fragte Sali. „Gelt, wenn ich es sagen
wollte!" „Du willst es also nicht sagen?" „Nein!" Gewiß nicht?"
„Nein, nein!" „Du sollst es sagen!" „Willst du mich etwa zwin-
gen?" Diese einfältigen Reden führte Sali, um seine Hände zu
beschäftigen und mit ungeschickten Liebkosungen, welche wie eine
Strafe aussehen sollten, das schöne Mädchen zu bedrängen. Sie
führte auch, sich wehrend, mit vieler Langmut den albernen Wort-
wechsel fort, der trotz seiner Leerheit beide witzig und süß genug
dünkte, bis Sali erbost und kühn genug war, Vrenchens Hände
zu bezwingen und es in die Mohnblumen zu drücken. Da lag es
nun und zwinkerte in der Sonne mit den Augen: seine Wangen
glühten wie Purpur, und sein Mund war halb geöffnet und ließ
zwei Reihen weiße Zähne durchfchimmcrn. Fein und schön flößen
die dunklen Augenbrauen ineinander, und die junge Brust hob und
senkte sich mutwillig unter' sämtlichen vier Händen, welche sich krur-


vor kurzem für möglich gehalten haben. Allerdings
prägt sich ein Irrtum Marxens immer mehr aus: sein
Glaube an die Einheitlichkeit des Proletariats. Dem
widersprach schon dis Geschichte der englischen Arbeiter-
bewegung, und auch im Stammland des Marxismus, in
Deutschland, erfahren wir in der Gestalt politischer Parteiung,
wie sich das Proletariat selber wieder klassenmäßig gliedert
und zersetzt. Daher finden wir heute wohl viel Wide:sprach
gegen den Marxismus, gleichwohl hat er nicht abgewirtschaftet.
Und feilt Grundgedanke von der selbsttätigen Entwicklung
der ökonomischen Zustände besitzt eine Geltung, die den
Wechsel der Zeiten überdauert. Kein Teil unseres Lebens
unterliegt so sehr einer mechanischen Massenentwicklung
wie der wirtschaftliche; das wird immer mehr oder weniger
so bleiben. Anderseits rächt sich am Marxismus das Aus-
schalten der menschlichen Seele. Er ist ebenso unpsycholo-
gisch wie etwa die Politik der wilhelminischen Aera;
darin gehören sie beide gemeinsam einer vergangenen Zeit an.
Die Seele des Arbeiters selber läßt die selbsttätige
Entwicklung nicht in den Himmel wachsen und widerlegt
die Alleinherrschaft des Marxismus. Der Marxismus gibt
kein Gegenmittel wider neue klassenbildende Kräfte, die schon
aus der verschiedenen Begabung der Menschen und den
einzelnen Berufen kommen. Es gibt nicht nur eine über-
geordnete, sondern auch eine nebengeordnete Klassen-
schichtung, die mit der Arbeitsteilung zusammenhängt und
gegen die sich die selbsttätige wirtschaftliche Entwicklung gar
nicht richtet. Und doch trotz alledem ist der Marxismus
unverwüstlich! Die immer wieder erneute Proletarisierung
von Volksschichten gibt ihm immer wieder Nahrung. Marx
selbst nämlich vergaß, daß bei dem Umschwung der Ent-
wicklung die vorherigen Unterdrücker proletarisiert werden
müssen, auch wenn dies von den vorherigen Unterdrückten,
nunmehrigen Herrschern gar nicht gewollt wird — einfach
aus dem Grunde heraus, weil dieselben im Kampf ums
Dasein den bisherigen Proletariern unendlich unterlegen
sein werden. Daher kann allerdings die Linie der Ent-
wicklung nicht so gradlinig verlaufen, wie Marx es sich
ausgemalt hat. Aber gerade, weil sie in Wellen verläuft,
so bilden sich immer neue Proletarisisrungsherde und immer
neue Ansätze zum Klassenkampf und zur selbsttätigen Befreiung.
Daher verliert der Marxismus zwar seine biblici-
stische Würde; sein Kerngedanke aber bleibt als
Teilgedanke auch für die Zukunft bestehen.
Und so hat im Widerstreit des bloß ethischen
oder religiösen und des ökonomischen Sozialismus
immer dieser Recht. Der religiöse Sozialismus ist nur
eine Gemütsangelegenheit, und nicht einmal eine unbedingt
lobenswerte, er führt leicht zu den schwersten Formen der
Selbstbelügung. Das Unrecht, das in der Welt ist, kann
nicht durch ein leeres Predigen beseitigt werden. Es gehört
der Kampf hinzu, und in diesem Kampfe, dem Klassen-
kampf, spielt die selbsttätige Kraft der Proletarisierung,
die Umschlagskraft der Geschichte, eine führende Rolle.
Kann sich nun der religiöse Sozialismus mit dem
Klassenkampf abfinden oder ist es dem gottgläubigen
Menschen unmöglich, den Wahrheitsgehalt des ökonomischen
Sozialismus anzuerkennen? Bislang ist es ja so gewesen:
das Christentum hat das bejahende Wort nicht gefunden.
Und so leicht ist das auch nicht. Denn der ökonomische
Sozialismus kannte in seiner Blütezeit keine seelischen Kräfte
nnd verfiel daher einer einseitig materialistischen Welt-
anschauung. Jedoch in der Arbeiterschaft selber hat sich
immer die ethische Denkweise erhalten; die ältesten Sozialisten
wehren sich ebenso wie die jüngsten dagegen, daß der
Sozialismus nichts als eine ökonomische Theorie sein solle.
Im Sozialistischen Programm stehen beide Denkweisen, die
ökonomische und die idealistische, neben einander, oft recht
unverbunden. Aber in den Seelen der Proletarier sind sie
verbunden, und das ist wichtiger als ihre äußerliche Un-
verbundenheit. Und auch der materialistischen Weltanschauung
eines Marx kann inan einen höheren Sinn entlocken:
Für den gottgläubigen Menschen ist auch in der Selbst-
befreiung der Unterdrückten der Wille dessen, der für das
Recht und die Gerechtigkeit sein Wort den Menschen
gegeben hat. Und wir dürfen in dem unreligiösen Denken
des ökonomischen Sozialismus einen Teil des göttlichen
Erlösungsplanes vermuten, allerdings nie mehr als einen
Teil. Der gläubige Mensch wird um so leidenschaftlicher
zum ökonomischen Sozialismus greifen, als er des un¬

bewußt verlogenen ethischen und religiösen Sozialismus
überdrüssig geworden ist. Allerdings entsteht für den reli-
giösen Marxisten, auch wenn er Marx nicht restlos, aber
doch in der Grundidee annimmt, eine außerordentlich
schwere Aufgabe, nicht geringeres als die Seelenrettung
des Marxismus.
Denn durch die Revolution seiner Lage wird der Mensch
nicht mit revolutioniert. Gesinnung und Glaube bleiben
dieselben, vielleicht stehen sie sehr hoch, vielleicht sehr tief.
Jaures hat es gesagt: wenn dis Sozialisten ihr Ziel er-
reicht haben werden, dann werden sie finden, daß ihre
Herzen leer sind! Wir empfinden das schon heute, wo erst
ein so kleiner Teil des Sozialismus verwirklicht ist. Daher
erleben wir ja eine Wiedergeburt des ethischen und religiösen
Sozialismus zur Revolution der Seele. Ein Antimarxist
wie Laudauer tritt fast ebenbürtig neben Karl Marx. Hier
aber gilt es vorzubeugen, um nicht in die alte Vogel-
straußpolitik des religiösen Sozialisten zurückzufallen.
Scharf unterscheidet sich auch heute noch der Sozialismus
der bürgerlichen und derjenige der proletarischen Denk-
weise. Und doch kommen wir mit dem ökonomischen
Sozialismus allein nie mehr aus. Unsere Herzen ver-
langen nach mehr. Einige glauben noch an die ausfüllende
Kraft der Wissenschaft, aber bald werden sie ihren Irrtum
entdecken. Die anderen sehen auf die ethische Lebens-
anschauung, und von dieser zur religiösen ist immer nur
ein Schritt. Die Menschheit besteht ja auch unter dem
Szepter des Sozialismus nicht nur aus Männern!
Aber wie stark nun auch die Welle des Gottesglaubens
wieder anwachsen mag, was wir heute nicht wissen und
nicht besprechen können, immer bleibt es unsere Aufgabe,
darob des ökonomischen Sozialismus nicht zu vergessen,
es sei denn, daß die wirtschaftliche Lage der Klassen uns
dessen enthöbe. Wir wollen nicht wieder in die alte, ver-
kennende, schönfärberische und daher verlogene Betrachtung
der Gesellschaft zurückfallen. Das hat mit dem Christentum
nichts zu tun, und nicht ohne Grund sind der Glaube und
seine Institutionen dem Volke unglaubwürdig geworden.
Wir wollen vielmehr den Sachverhalt bis zu einem gewissen
Grade umkehren und es aussprechen: wer sich am kämpfend en
Sozialismus beteiligt, der erwirbt dadurch eine An-
wartschaft auf den Glauben, die der nicht um die Gerechtig-
keit Kämpfende schwerer erwirbt. Innerhalb des Sozialismus
aber wird die Richtung sich notwendigerweise verstärken,
welche nach einer inneren Ergänzung des Kampfes, hinaus
über die ökonomische Wissenschaft verlangt, auf daß das
Proletariat in seiner Selbstbefreiung sich nicht selber erdolche!
Religiöser und ökonomischer Sozialismus —
jener uralt, dieser noch beinahe eine Sensation — können
sich wechselseitig nicht entbehren, auch wenn sie häufig in
Gegensatz geraten. Sie sind wie Seele und Körper in
dem Werdegange der Gerechtigkeit auf Erden.

Politische Ueberstcht
Mit der eigenen Peitsche!
Ein bewegliches Klagelied tönt uns ans den Spalten der
„F reihei t" entgegen. Artur Crispien, der radikale Par-
teivorsitzcnde der ll.S.P.D. ist von seinen eigenen Anhängern, wie
wir schon berichteten, in Charlottenburg niedergebrüllt worden, weil
dort ein Rechtsanwalt Brvh, bis 1918 glühender Patriot und An-
nexionist, den noch Radikaleren mimte. Nun macht Lrispien seinem
gequälten Herzen in bewegten Ausführungen Lust. Er schildert auf
reichlich zwei Spalten, was für ein braver, treuer, lieber Partei-
genosse, welch ein Prachtmensch geradezu er, Artur Lrispien, von
früher Jugend auf gewesen sei, wie er sogar für die Partei Flug-
blätter ausgetragen und im Gefängnis gesessen habe. Und nun
muß ihm das passieren, als „Oberbonze" einfach niedergebrültt zu
werden! Nur ein Wort der Gerechtigkeit und Vernunft zu sprechen,
das war des braven, treuen Parteimärtyrers einzige Absicht. Aber:
Der akademisch geschulte Jurist und „radikale" Parteigenosse
wollte das nicht zulasten. Er half es auch durchsetzen, daß unser „Ober-
bonze" mit seinem gesunden Menschenverstand niedergeschrien
wurde. Und wie! Der radikale Jurist gab -ein leuchtendes Beispiel
akademischer Bildung und feuerte irregesührte Arbeiter immer wieder
dmu an, den „Oberbonzen" nicht sprechen zu lasten. Unser „Ober-
bonze" wurde beschimpft, wie noch nie in seinem Leben. Wörter wie
Bremser, Oberbonze, Schieber, Verräter waren vielleicht noch nicht
einmal die schlimmsten.
Beschimpft und niedergeschrien wie noch nie im Leben!
Das will viel sagen. Denn unser „Oberbvnze" hat nicht nur
manche stürmische Parteiversammtung mitgemacht, sondern auch
manche wilde gegnerische Versammlung. Nicht einmal in jener
Versammlung westpreußischer Agrarier, in dem er dem „blutigen Stall-

terdunt darauf streichelten und bekriegten. Sali wußte sich nicht
zu lassen vor Freuden, das schlanke schöne Geschöpf vor sich zu
sehen, es sein eigen zu wissen, und es dünkt ihm ein Königreich.
„Alle deine weißen Zähne hast du noch!" lachte er, „weißt du noch,
wie oft wir sie einst gezählt haben? Kannst du jetzt zählen?"
„Das sind ja nicht die gleichen, du Kind!" sagte Vrenchen, jene
sind längst -ausgefallen!" Sali wollte nun in seiner Einfalt jenes
Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber
Vrenchen verschloß plötzlich den roten Mund, richtete sich auf und
begann einen Kranz von Mohnrosen zu winden, den es sich auf
den Kopf setzte. Der Kranz war voll und breit und gab der
bräunlichen Dirne ein fabelhaftes reizendes Ansehen, und der
arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche Leute teuer bezahlt
hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden hätten sehen
können. Jetzt sprang sie aber empor und rief: „Himmel, wie heiß
ist es hier! Da sitzen wir wie die Narren und lasten uns versengen!
Komm, mein Lieber! laß uns ins hohe Korn sitzen!" Sie schlüpften
hinein so geschickt und sachte, daß sie kaum eine Spur zurückließen,
und bauten sich einen engen Kerker in den goldenen Aehren, die
ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drin saßen, so daß sie nur
den tiefblauen Himmel über sich sahen und sonst nichts von der
Welt. Sie umhalsten sich und küßten sich unverweilt und so lange,
bis sie einstweilen müde waren, oder wie man es nennen will,
wenn das Küssen zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten
sich selbst überlebt und die Vergänglichkeit alles Lebens misten im
Rausche der Blütezeit ahnen läßt. Sie hörten die Lerchen singen
hoch über sich und suchten dieselben mit ihren scharfen Augen, und
wenn sie glaubten, flüchtig eine in der Sonne aufblitzen zu sehen,
gleich einem plötzlich aufleuchtenden oder hinschießenden Stern am
blauen Himmel, so küßten sie sich wieder zur Belohnung und suchten
einander zu Übervorteilen und zu täuschen, so viel sie konnten.
„Siehst du, dort blitzt eine!" flüsterte Sali, und Vrenchen ebenso
leise: „Ich höre sie wohl, aber ich sehe sie nicht!" „Doch, paß nur
auf, dort wo das weiße Wölkchen steht, ein wenig rechts davon!"
Unh beide sahen eifrig hin und sperrten vorläufig ihre Schnäbel auf,
wie die jungen Wachteln im Neste, um sie unverzüglich aufeinander
zu heften, wenn sie sich einbildeten, die Lerche gesehen zu haben.
Auf einmal hielt Vrenchen inne und sagte: „Dies ist also nne aus-
gemachte Sache, daß jedes von uns einen Schatz hat, dünn es dich
nicht so?" „Ja," sagte Sali, „es scheint mir auch so!" „Wie
gefällt dir denn dein Schätzchen," sagte Vrenchen, „was ist es für
ein Ding, was hast du von ihm zu melden?" „Es ist ein gar feines
Ding, "sagte Sali, „es hat zwei braune Augen, -einen roten Mund
und läuft auf zwei Füßen; aber seinen Sinn kenn ich weniger al¬

ben Papst zu Rom! Und was kannst du von deinem Schatz be-
richten?" „Er hat zwei blaue Augen, einen nichtsnutzigen Mund
und braucht zwei verwegene starke Arme; aber seine Gedanken sind
mir unbekannter als der türkische Kaiser!" „Es ist eigentlich wahr,"
sagte Sali, „daß wir uns weniger kennen, als wenn wir uns nie
gesehen hätten, so sremd hat uns die lange Zeit gemacht, seit wir
groß geworden sind!" Was ist alles vorgegangen in deinem Köpf-
chen. mein liebes Kind?" „Ach, nicht viel! Tausend Narrensposten
haben sich wollen regen, aber es ist mir immer so trübselig ergangen,
daß sie nicht auskommen konnten!" „Du armes Schätzchen," sagte
Sali, „ich glaube aber, du hast es hinter den Ohren, nicht?" „Das
kannst du ja nach und nach erfahren, wenn du mich recht lieb
hast!" „Wenn du einst meine Frau bist?" Vrenchen zitterte leis
bei diesem letzten Worte und schmiegte sich tiefer in Salis Arme ihn
von neuem lange und zärtlich küssend. Es traten ihr dabei Tränen
in die Augen, und beide wurden auf einmal traurig, da ihnen ihre
hoffnungsarme Zukunft in den Sinn kam und die Feindschaft ihrer
Eltern. Vrenchen seufzte und sagte: „Komm, ich muß nun gehen!"
und so erhoben sie sich und gingen Hand in Hand aus dem Korn-
feld, als sie Vrenchens Vater spähend vor sich sahen. Mit dem
kleinlichen Scharfsinn des müßigen Elends hatte dieser, als er dem
Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der wohl allein im Dorfe
zu suchen ginge, und sich des gestrigen Vorfalles erinnernd, verfiel
er, immer nach der Stadt zu schlendernd, endlich auf die richtige
Spur, rein aus Groll und unbeschäftigter Bosheit, und nicht so bald
gewann der Verdacht eine bestimmte Gestalt, als er mitten in den
Gasten von Seldwyla umkehrte und wieder in das Dorf hinaus-
trollte, wo er seine Tochter in Haus und Hof und rings in den
Hecken vergeblich suchte. Mit wachsender Neugier rannte er auf
den Acker hinaus, und als er da Vrenchens Korb liegen sah. in
welchem es die Früchte zu holen pflegte, das Mädchen selbst aber
nirgends erblickte, spähte er eben am Korne des Nachbars herum,
als die erschrockenen Kinder herauskamen.

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