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Walden, Herwarth
Die neue Malerei — Berlin, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.26391#0017
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Bild ist genau so kompliziert, wie der mensch-
liche Organismus. Die Schätzung nach der
Oberfläche täuscht. Wer von uns hat noch
nicht falsche treue Augen gesehen, an sie ge-
glaubt. Trotzdem man Uebung und Erfahrung
hat. Auch das treuäugige Bild täuscht. Wie
viele aber haben Bildübung und Bilderfahrung.
Man wird leichter einsehen, als sehen, dass die
Wertung eines Kunstwerkes nicht so einfach
ist. Selbst der Arzt stellt falsche Diagnosen,
trotzdem er sich nicht nur auf die Augen ver-
lässt. In der Kunst ist Jeder mit dem Urteil
seines Auges schriell fertig. Man muss sich
daran gewöhnen, nicht mit der Sicherheit des
Auges ein Bild abzusehen. Man muss davon
absehen. Das ist Voraussetzung der Er-
kenntnis.

Wieviele Menschen haben nicht schon über ein
Kunstwerk gelacht. Die Lacher mögen sich
prüfen, was sie zum Lachen zwingt. Man lacht
über das, was man noch nicht erfahren hat.
Ueber die Liebe. Ueber den Tod. Ueber den
Glauben. Und über die Kunst. Warum spotten
wir über Kunst. Weil wir bewegt werden.
Weil wir mitten in den Kreislauf unseres Blutes
hineingefasst werden. Weil unser Herz stockt.
Weil etwas vor unserer Erkenntnis steht, was
zugleich hinter unserer Erfahrung steht. Den
Kindern wird verboten,! über das Ungewöhnliche
zu lachen. Die Gebildeten lachen seelenruhig.
Weil ihre Seele unruhig wird. Weil sie das
Leben fühlen, über das sie sich gewöhnlich hin-

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