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Fünftes Kapitel. Gebärden.

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Daß von der Sprechgebärde noch Paulus Silentiarius die richtige Vorstellung besaß,
beweist die Erklärung, die er von dem lehrenden und zwischen Petrus und Paulus thronenden
Erlöser, welcher in dem Altartuch der Hagia Sophia eingestickt war, gibt: „Die Finger der
Rechten hebt er (Christus) empor, als würde er das Wort der ewigen Wahrheit verkünden;
in der Linken hält er das Buch, in welchem verzeichnet sind die heiligen Reden."' Diese Er-
klärung paßt nicht bloß auf Christus, sondern würde sich auch unter das Porträt Gregors
und der typischen, seit dem 4. Jahrhundert auftretenden Bischofsgestalten überhaupt als
Unterschrift setzen lassen. Trotzdem ist anzunehmen, daß der Schnitzer einer Elfenbein-
platte aus dem 11. oder 12. Jahrhundert bei einer Gestalt, welche der von Paulus Silentiarius
beschriebenen ähnlich war, an den segnenden Christus dachte; denn die erklärende Inschrift
beginnt mit den Worten: Herr, segne deinen Diener. In der Interpretierung der späteren
Werke darf also die Deutung des Segens nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Der
Interpret wird dann aber im Interesse der Deutlichkeit gut tun, ausdrücklich hervorzuheben,
daß der Segen durch den Sprechgestus erteilt werde. Man kann also nicht fehlgehen,
wenn man in der Beschreibung von Bildwerken dieser Gebärde immer ihren Namen läßt,
während es sonst mindestens zweideutig ist, wenn man vom Segnen „nach griechischer Art"
oder gar vom „Segnen" schlechthin spricht.

§ 6. Gestus des Schmerzes und der Trauer.

In den Katakomben, wo alles an die Freuden des Jenseits mahnen sollte, hatten die Künstler
überaus selten Gelegenheit, den Schmerz und die Trauer zum Ausdruck zu bringen3. Sie be-
dienten sich dazu der am meisten verbreiteten Gebärde: die trauernde Gestalt legt die Hand,
gewöhnlich die Rechte, an das Kinn. Die Monumentalkunst behielt diesen Gestus bei. Es macht
ihn, auf einem sehr beschädigten liberianischen Mosaik, Lia bei dem Anblick ihrer entehrten
Tochter Dina, ferner die Unverschleierte, die sich zu der Konfessio der hll. Johannes und
Paulus eingefunden hat, um irgend ein Anliegen den Märtyrern zu empfehlen (Taff. 15,1 131,3).

Bei gesteigertem Schmerz lösten die Frauen das lange Haar, die „Zierde des Geschlechtes",
und ließen es ungekämmt auf die Schultern herabfallen. In diesem Aufzug sehen wir die
bethlehemitischen Frauen, welche dem königlichen Befehle gehorchend mit ihren Kleinen
vor Herodes erschienen sind. Dadurch, daß der Künstler sie mit aufgelösten Haaren ge-
schildert hat, deutete er das bevorstehende Unglück an. Mit aufgelösten Haaren kommt
ferner die MVLIER VIDVA an das Grab des hl. Klemens, um ihr verlorenes Kind zu suchen,
und beugt sich die Braut über ihren toten Bräutigam, den hl. Alexius, um sein Antlitz mit
Küssen zu bedecken, während die greisen, neben ihr stehenden Eltern sich die Haare aus-
raufen und die Mutter obendrein noch durch das aufgerissene Gewand ihre Brüste zeigt4

1 Descript. S. Sophiae 776ttt ed. Becker 37f.

2 Schlumberger, L'Epopee byzantine III 193.

3 Vgl. meine Katakombenmalereien 119.

4 Auf der Miniatur mit der Darstellung- des Kindermordes im
Codex Egberti haben zwei Frauen sogar den ganzen Oberkörper
entkleidet. Vgl. Kraus, Die Miniaturen des Codex EgbertiTai. 13.
 
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