ÜBER GEGENSTÄNDE DER ALTEN KUNST
nicht leicht Figuren mit einem Bein über das andere
geschlagen stehen, es sei denn ein Bacchus in Mar-
mor, ein Paris oder Nereus aufgeschnittenen Steinen,
zum Zeichen der Weichlichkeit.
In den Gebärden der alten Figuren bricht die Freude
nicht in Lachen aus, sondern sie zeigt nur die
Heiterkeitvom inneren Vergnügen. Auf dem Gesichte
einer Bacchantin blickt gleichsam nur die Morgen-
röte von der Wollust auf. In Betrübnis und Unmut
sind sie ein Bild des Meers, dessen Tiefe stille ist,
wenn die Fläche anfängt unruhig zu werden; auch
im empfindlichsten Schmerz erscheint Niobe noch
als die Heldin, welche der Latona nicht weichen
wollte. Denn die Seele kann in einen Zustand ge-
setzt werden, wo sie, von der Größe des Leidens, wel-
ches sie nicht fassen kann, übertäubt, der Unempfind-
lichkeit nahekommt. Die alten Künstler haben hier,
wie ihre Dichter, ihre Personen gleichsam außer der
Handlung, die Schrecken oder Wehklagen erwecken
müßte, gezeigt, auch um die Würdigkeit der Men-
schen in Fassung der Seele vorzustellen.
Die Neuern, welche teils das Altertum nicht ken-
nen lernen oder nicht zur Betrachtung der Grazie
in der Natur gelangt sind, haben nicht allein die Na-
tur gebildet, wie sie empfindet, sondern auch, was
sie nicht empfindet. Die Zärtlichkeit einer sitzenden
Venus in Marmor zu Potsdam, von Pigalle aus Paris,
ist in einer Empfindung, in welcher ihr das Wasser
aus dem Munde laufen will, welcher nach Luft zu
schnappen scheint: denn sie soll vorBegierde schmach-
tend aussehen. Sollte man glauben, daß ein solcher
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nicht leicht Figuren mit einem Bein über das andere
geschlagen stehen, es sei denn ein Bacchus in Mar-
mor, ein Paris oder Nereus aufgeschnittenen Steinen,
zum Zeichen der Weichlichkeit.
In den Gebärden der alten Figuren bricht die Freude
nicht in Lachen aus, sondern sie zeigt nur die
Heiterkeitvom inneren Vergnügen. Auf dem Gesichte
einer Bacchantin blickt gleichsam nur die Morgen-
röte von der Wollust auf. In Betrübnis und Unmut
sind sie ein Bild des Meers, dessen Tiefe stille ist,
wenn die Fläche anfängt unruhig zu werden; auch
im empfindlichsten Schmerz erscheint Niobe noch
als die Heldin, welche der Latona nicht weichen
wollte. Denn die Seele kann in einen Zustand ge-
setzt werden, wo sie, von der Größe des Leidens, wel-
ches sie nicht fassen kann, übertäubt, der Unempfind-
lichkeit nahekommt. Die alten Künstler haben hier,
wie ihre Dichter, ihre Personen gleichsam außer der
Handlung, die Schrecken oder Wehklagen erwecken
müßte, gezeigt, auch um die Würdigkeit der Men-
schen in Fassung der Seele vorzustellen.
Die Neuern, welche teils das Altertum nicht ken-
nen lernen oder nicht zur Betrachtung der Grazie
in der Natur gelangt sind, haben nicht allein die Na-
tur gebildet, wie sie empfindet, sondern auch, was
sie nicht empfindet. Die Zärtlichkeit einer sitzenden
Venus in Marmor zu Potsdam, von Pigalle aus Paris,
ist in einer Empfindung, in welcher ihr das Wasser
aus dem Munde laufen will, welcher nach Luft zu
schnappen scheint: denn sie soll vorBegierde schmach-
tend aussehen. Sollte man glauben, daß ein solcher
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