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WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

weiches Herz und folgsame Sinnen sind Zeichen
dieser Fähigkeit. Deutlicher entdeckt sich dieselbe,
wenn beim Lesen eines Schriftstellers die Empfin-
dung zärtlicher gerührt wird, wo der wilde Sinn
überhin fährt, wie dies verschiedentlich geschehen
würde in der Rede des Glaucus an den Diomedes, der
rührendenVergleichung des menschlichen Lebensmit
Blättern, die der Wind abwirft und die im Frühling
wiederum hervorsprossen. Wo diese Empfindung
nicht ist, predigt man Blinden die Erkenntnis des
Schönen, wie die Musik einem nicht musikalischen
Gehör. Ein näheres Zeichen ist bei Knaben, die nicht
nahe bei der Kunst erzogen werden, noch eigens zu
derselben bestimmt sind, ein natürlicher Trieb zum
Zeichnen, welcher angeboren ist, wie der zur Poesie
und Musik.

Da ferner die menschliche Schönheit, zur Kenntnis,
in einen allgemeinen Begriff zu fassen ist, so habe
ich bemerkt, daß diejenigen, welche nur allein aut
Schönheiten des weiblichen Geschlechts aufmerksam
sind und durch Schönheiten in unserem Geschlechte
wenig oder gar nicht gerührt werden, die Empfindung
des Schönen in der Kunst nicht leicht angeboren, all-
gemein und lebhaft haben. Dieselbe wird bei ihnen
in der Kunst der Griechen mangelhaft bleiben, da
deren größte Schönheiten mehr von unserm, als
von dem andern Geschlechte sind. Mehr Empfin-
dung aber wird zum Schönen in der Kunst, als in
der Natur erfordert, weil es, wie die Tränen im
Theater, ohne Schmerz, ohne Leben ist und durch
die Einbildung erweckt und ersetzt werden muß. Da

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