Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

barer, wie es eine weiße Haut durch ein dunkles
Kleid wird. Die Natur aber handelt nicht nach die-
sem Satze, sie geht stufenweis auch in Licht, Schatten
und Finsternis, und vor dem Tage geht vorher die
Morgenröte, und vor der Nacht die Dämmerung.
Die Pedanten in der Malerei pflegen diese schwarze
Kunst zu schätzen, wie die in der Gelehrsamkeit
einige beschmauchte Skribenten. Aber ein Liebhaber
der Kunst, der in sich ein Gefühl des Schönen be-
merkt und nicht genügsame Kenntnis besitzt, wird
irre, wenn er von vermeinten Kennern Gemälde
schätzen hört, wo ihm sein Sinn das Gegenteil sagt.
Hat er die Werke der besten Meister betrachtet, so
daß er eine notdürftige Erfahrung erlangt hat, kann
er sein Auge und sein Gefühl mehr als den Aus-
spruch, welcher ihn nicht überzeugt, sich als Regel
gelten lassen. Denn es gibt Leute, die nur das loben,
was andern nicht gefällt, um sich dadurch über die
gemeine Meinung hinwegzusetzen, den finsteren und
gezwungenen Nicander dem Homer gleichschätzten,
um etwas Fremdes zu sagen und von sich glauben
zu machen, daß sie ihren Held gelesen und verstan-
den. Der Liebhaber der Kunst kann versichert sein,
daß, wenn es nicht nötig wäre, die Manier gewisser
Meister zu kennen, die Gemälde des Luca Giordano,
des Preti Calabrese, des Solimena und überhaupt aller
Neapelschen Maler kaum die Zeit wert sind, sie zu
untersuchen: eben dieses kann von den neueren vene-
zianischen Malern, sonderlich von Piazzetta, gesagt
werden.

Ich füge diesem Unterrichte zur Empfindung des

204
 
Annotationen