WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN
Die in Bildern redende Natur und die Spuren von
bildlichen Begriffen erkennt man sogar in dem Ge-
schlechte der Worte, welches die ersten Benenner
derselben mit den Worten verbunden haben. Das
Geschlecht zeugt von einer Betrachtung der wir-
kenden und leidenden Beschaffenheit, und zugleich
des Mitteilens und des Empfangens, das man sich
verhältnisweise in den Dingen vorgestellt, so daß das
Wirkende in männlicher Gestalt und das Leidende
weiblich eingekleidet wurden. Die Sonne hat in den
alten und in den meisten neuen Sprachen eine männ-
liche Benennung, wie der Mond eine weibliche, weil
dort Wirkung und Einfluß erkannt wurden, hier aber
Annehmen und Empfängnis. Daher haben Ägypter,
Phönizier, Perser, Etrurier und Griechen die Sonne
männlich und den Mond weiblich gebildet. In der
deutschen Sprache ist in beiden Worten das Gegenteil,
wovon ich den Grund anzugeben andern überlasse.
So scheint Gott, der Tod, die Zeit und andere Be-
griffe mit dieser Betrachtung des Wirkens und Ein-
flusses in den alten Sprachen männlich benannt zu
sein. Die Erde hat eine Benennung weiblichen Ge-
schlechts und ist in weiblicher Gestalt gebildet, weil
dieselbe den Einfluß des Himmels und die Witterung
empfängt und nur durch Mitteilung wirkt. Es ist
also hieraus zu schließen, daß die ältesten Zeichen der
Gedanken mutmaßlich bildliche Vorstellungen der-
selben gewesen.
Unter den Ägyptern, welche, wie die Griechen sagen,
die Allegorie erfunden haben, war dieselbe allge-
meiner als unter andern uns bekannten Völkern, und
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Die in Bildern redende Natur und die Spuren von
bildlichen Begriffen erkennt man sogar in dem Ge-
schlechte der Worte, welches die ersten Benenner
derselben mit den Worten verbunden haben. Das
Geschlecht zeugt von einer Betrachtung der wir-
kenden und leidenden Beschaffenheit, und zugleich
des Mitteilens und des Empfangens, das man sich
verhältnisweise in den Dingen vorgestellt, so daß das
Wirkende in männlicher Gestalt und das Leidende
weiblich eingekleidet wurden. Die Sonne hat in den
alten und in den meisten neuen Sprachen eine männ-
liche Benennung, wie der Mond eine weibliche, weil
dort Wirkung und Einfluß erkannt wurden, hier aber
Annehmen und Empfängnis. Daher haben Ägypter,
Phönizier, Perser, Etrurier und Griechen die Sonne
männlich und den Mond weiblich gebildet. In der
deutschen Sprache ist in beiden Worten das Gegenteil,
wovon ich den Grund anzugeben andern überlasse.
So scheint Gott, der Tod, die Zeit und andere Be-
griffe mit dieser Betrachtung des Wirkens und Ein-
flusses in den alten Sprachen männlich benannt zu
sein. Die Erde hat eine Benennung weiblichen Ge-
schlechts und ist in weiblicher Gestalt gebildet, weil
dieselbe den Einfluß des Himmels und die Witterung
empfängt und nur durch Mitteilung wirkt. Es ist
also hieraus zu schließen, daß die ältesten Zeichen der
Gedanken mutmaßlich bildliche Vorstellungen der-
selben gewesen.
Unter den Ägyptern, welche, wie die Griechen sagen,
die Allegorie erfunden haben, war dieselbe allge-
meiner als unter andern uns bekannten Völkern, und
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