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Winckelmann, Johann Joachim; Winckelmann, Johann Joachim [Hrsg.]; Bruer, Stephanie-Gerrit [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Hrsg.]; Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Winckelmann-Gesellschaft [Hrsg.]; Gross, Marianne [Bearb.]
Schriften und Nachlaß (Bd. 2, T. 1): Sendschreiben von den herculanischen Entdeckungen — Mainz am Rhein: von Zabern, 1997

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https://doi.org/10.11588/diglit.51406#0075
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Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen · Text

71

Herculanum um so viel weniger eine erhabene Lage gehabt haben, sonderlich wenn man
bedenket, wie tief diese Stadt unter dem Erdboden ist. Das Theater derselben ist über hundert
Palmen tief, und man gelanget in dasselbe auf eben so viel Stufen, welche zur Bequemlichkeit
von den Arbeitern gehauen sind. Das Paviment oder der schöne Fußboden, womit das zweyte
Zimmer des herculanischen Musei ausgezieret ist, wurde 102 Neapelsche Palmen tief unter der
Erde gefunden, und es war dasselbe in einer offenen Loggia auf einer Art von Bastion geleget,
welche wiederum 25 Palmen über das Gestade des Meers erhöhet war.
Hieraus folget, daß das Meer sehr viel höher müsse gewachsen seyn; welches dem ersten
Anblicke eine seltsame Meynung scheint, hier aber und auch in Holland durch den handgreifli-
chen Augenschein bestätiget wird. Denn in Holland ist das Meer offenbar höher, als das Land,
welches die Nothwendigkeit der Dämme beweiset: es muß aber das Meer ehemals nicht so hoch
gewesen seyn, weil diese Provinz zu der Zeit, da dem Meere noch keine Grenzen durch Men-
schenhände gesetzt waren, nicht hätte können angebauet werden. Dem Einwurfe, welchen
jemand machen könnte, daß vielleicht das alte Herculanum im Erdbeben gesunken sey, scheinet
die ordentliche Lage der Gebäude zu widersprechen, und es wird damals, als das Unglück diese
Stadt betraf, von keinem so heftigen Erdbeben gemeldet, daß es eine ganze Stadt verschlingen
können. Und wenn dieses anzunehmen wäre, würde es vor dem Ausbruche des Berges gesche-
hen seyn, und es hätte also die Asche desselben nichts bedecken können: denn das Erdbeben
geht nur vor dem Ausbruche vorher, und folget niemals auf denselben.
Von einem hohen Wachsthume und Falle des Meeres finden sich deutliche Beweise an den
Säulen im Foro des Tempels des Aesculapius, [8] andere wollen, des Bacchus zu Pozzuolo.
Dieses Gebäude liegt auf einer ziemlichen Anhöhe, einige fünfzig Schritte vom Meere, muß aber
ehemals völlig vom Wasser überschwemmet gewesen seyn: denn die Säulen nicht allein, welche
liegen, sondern auch welche noch stehen, sind von einer länglichen Seemuschel durchbohret
und durchlöchert. Dieses ist sonderlich an Säulen von dem härtesten Aegyptischen Granite
erstaunend zu sehen, welche als ein Sieb durchgearbeitet sind; in vielen Löchern stecken noch
die Schalen. Die Muschel heißt Dactylus von δάκτυλος, der Finger, weil sie die Gestalt, die
Dicke und Länge desselben hat. Ehe dieselben den Stein haben angreifen können, ist voraus zu
setzen, daß diese Säulen geraume Zeit vom Wasser ausgefressen worden, um ihnen einen Weg
zu machen, sich hinein zu setzen. Diese Muschel setzet sich, wenn sie ganz jung ist, und ohne
Schale, in eine Oeffnung des Steins, bekleidet sich daselbst mit der Schale, und drehet sich mit
derselben, durch Hülfe des Wassers, welches die Gänge schlüpfrig macht, unaufhörlich umher,
wächst und nimmt zu, und fährt fort zu bohren, und endlich, wenn dieselbe zu ihrer völligen
Größe gelanget ist, findet sie den Ausgang für sich mit sammt der Schale zu klein, und muß also
in ihrer Wohnung bleiben. In die Löcher von verschiedener Größe kann man einen von den
fünf Fingern stecken, und sie sind so glatt ausgebohret, als kaum mit Stahl und Erzt hätte
geschehen können. Ferner ist daselbst der mit Marmor gepflasterte Platz vor dem Tempel
annoch hier und da voller Triebsand, welchen das Meer hinein geschleppet hat. Itzo und so
lange man denken kann, ist dieser Ort, wie ich gesagt habe, weit und erhöhet von dem Meere
entfernet; folglich ist das Meer wiederum zurückgefallen. Die Art und Möglichkeit dieser
untrüglichen Erfahrung mögen andere untersuchen; ich bleibe bey der bloßen Erzählung und
bey der Wahrheit des Augenscheins.
 
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