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Kommentare zu S. 1-132
Vergleichung der einen Grazie mit der andern in den Werken der alten Künstler.
$. 45. Wie nun in den Werken der Kunst die eine Grazie von der andern unterschieden sey, und woran man diejenigen, welchen
die erste Grazie eigen ist, vor denen, welche unter dem Einflüsse der zweyten gearbeitet sind, erkennen könne, wird man entdecken,
wenn man erwägt, daß Phidias und seine Zeitgenossen scheinen alle ihre Kunst mehr auf die Darstellung einer wahren als einer
reitzenden Schönheit verwandt und mehr den Ausdruck des Erhabenen als des Lieblichen gesucht zu haben. Da man ferner weiß,
daß die Kunst der Zeichnung von dem Phidias, Polycletus und den andern kurz vorher genannten Künstlern auf den höchsten Grad
der Vollkommenheit gebracht worden: so muß man vermuthen, daß die Kunst, so wie die Staaten und die Gemeinheiten, angefangen
haben durch strenge Gesetze groß zu werden. Diese werden Anfangs in genau bezeichneten und scharfen Umrissen bestanden haben,
welche von einer etwas schneidenden Härte fast unzertrennlich sind; die also gezeichneten Figuren müssen daher ein strenges Wesen
gezeigt haben, welches beym ersten Anblicke wohl wenig Anziehendes hatte. Solches muß man [HO] wenigstens voraussetzen, wenn
man gehörig überlegt, nach welchen Grundsätzen und Regeln jeder, welcher die wahre Kenntnißder Zeichnung zu erlangen wünscht,
unterrichtet werden müsse. Denn die wahre Methode lernt sich nicht durch schwebende und leicht angedeutete Umrisse, sondern durch
feste und scharf begränzte, bey welchen man die Härte und Strenge nicht fürchten darf; gerade wie in der Erlernung der Musik und
der Sprachen dort die Töne und hier die Sy Iben und Worte scharfund deutlich dem Schüler müssen angegeben werden, damit er zur
reinen Harmonie und zur fließenden Aussprache gelange.
Der neuern.
$. 46. Man vergleiche eine Zeichnung vom Raphael, Andrea del Sarto, oder Leonardo da Vinci, welche die Meister in ihrer Reinheit
und Genauigkeit der Umrisse sind, mit irgend einer Zeichnung von Correggio, Guido und Albano, welche für die Väter der Grazie
gehalten werden, und man wird sogleich begreifen, daß es mehr als eine Grazie in der Kunst giebt. Sie kann dem Raphael gewiß nicht
streitig gemacht werden; aber jene Strenge seiner Zeichnung hat vielen gegen die rundlich und sanft gehaltenen Formen Anderer so hart
geschienen, daß Malvasia an ihm eine steife, hölzerne (Statuina) Manier tadelt. Beym Correggio, Guido und Albano ist Alles Grazie;
aber da sie dieselbe bis zum Uebermaße suchten und einem jeden Th eile sanfte Ab- [111] rundung und Weichheit der Umrisse geben
wollten, sind sie bey einigen in den Tadel des Gezierten gefallen. Indem ich mir schmeichle, richtig bemerkt zu haben, woher diese
Beschuldigungen entstehen, behaupte ich zugleich, daß diese Künstler die neuern Praxiteles undApelles sind; Raphael, del Sarto und
da Vinci die Phidias, Polyclete undPolygnote. Zwischen den Einen und den Andern kann man gewissermaßen dieselbe Verschiedenheit
annehmen, welche in der Beredsamkeit zwischen Cicero und Demosthenes statt findet; dieser reißt uns mit Ungestüm fort, und jener
führt uns willig mit sich; der Eine läßt uns nicht Zeit, an die große von ihm aufgebotene Kunst und an die unendlichen Schönheiten
seines Styls zu gedenken, und in diesem erscheinen sie ungesucht und breiten sich mit einem allgemeinen Lichte aus über die Gründe
und den Gegenstand, den er behandelt.
$. 47. Die Zeit hat uns der Gelegenheit beraubt mit völliger Deutlichkeit bestimmen zu können, wie weit die Werke der vorgenannten
großen Meister der Kunst aus der ersten Klasse von der Grazie derer aus der zweiten Klasse, oder des Praxiteles undApelles entfernt
gewesen. Nichts destoweniger sind wir nicht aller Denkmäler beraubt, durch welche meine Behauptung mehr Licht und Klarheit
erhalten und der von mir angegebene Unterschied fühlbarer gemacht werden könnte.
[112] In einigen erhobenen Werken.
$. 48. Denn es haben sich einige erhobene Werke erhalten, aus welchen in Hinsicht der Handlung, im engern Sinne genommen,
das von mir Gesagte deutlich erhellt, obgleich diese Denkmäler wegen der Kleinheit ihrer Figuren nicht zu Beweisen für den
Ausdruck geeignet sind, ich meyne den des Gesichts, welcher daher an Statuen beobachtet seyn will; aber wir befinden uns auch
von dieser Seite in keinem gänzlichen Mangel.
$. 49. Die erhobenen Werke, von welchen ich rede, sind alle in dem sogenannten ältesten Style gearbeitet, und gehören zum
Theil wirklich jener alten Zeit und jenem Style an, oder sie sind Nachahmungen, die in den späteren Zeiten gemacht worden,
wie ich in dem vorhergehenden Kapitelgezeiget habe. Es ist zwar richtig, daß, so viel wir zu urtheilen vermögen, die Werke,
welche keine Nachahmungen sind, den Zeiten vor dem Phidias anzugehören scheinen. Aber ohne das Vor oder Nach zu beachten,
ist es gewiß, daß man den Styl ihrer Zeichnung in die Zeit vor der Einführung des Zierlichen in die Kunst, das heißt in die
Zeit vor dem Praxiteles setzen muß. Daher pflegt die Handlung jener erhoben gearbeiteten Figuren streng zu sein; die Umrisse
und die Muskeln sind empfindlich angedeutet, und der Mangel der Grazie offenbart sich in der [113] Stellung und Bewegung
des ganzen Körpers, besonders der Hände.
In zwey Statuen der Musen wovon die eine im Barberinischen Pallaste, die andere im Päbstlichen Garten auf dem Quirinale.
$. 50. In Ansehung der Statuen beschränke ich mich auf zwei; eine derselben ist eine Muse über Lebensgröße im Barberinischen
Kommentare zu S. 1-132
Vergleichung der einen Grazie mit der andern in den Werken der alten Künstler.
$. 45. Wie nun in den Werken der Kunst die eine Grazie von der andern unterschieden sey, und woran man diejenigen, welchen
die erste Grazie eigen ist, vor denen, welche unter dem Einflüsse der zweyten gearbeitet sind, erkennen könne, wird man entdecken,
wenn man erwägt, daß Phidias und seine Zeitgenossen scheinen alle ihre Kunst mehr auf die Darstellung einer wahren als einer
reitzenden Schönheit verwandt und mehr den Ausdruck des Erhabenen als des Lieblichen gesucht zu haben. Da man ferner weiß,
daß die Kunst der Zeichnung von dem Phidias, Polycletus und den andern kurz vorher genannten Künstlern auf den höchsten Grad
der Vollkommenheit gebracht worden: so muß man vermuthen, daß die Kunst, so wie die Staaten und die Gemeinheiten, angefangen
haben durch strenge Gesetze groß zu werden. Diese werden Anfangs in genau bezeichneten und scharfen Umrissen bestanden haben,
welche von einer etwas schneidenden Härte fast unzertrennlich sind; die also gezeichneten Figuren müssen daher ein strenges Wesen
gezeigt haben, welches beym ersten Anblicke wohl wenig Anziehendes hatte. Solches muß man [HO] wenigstens voraussetzen, wenn
man gehörig überlegt, nach welchen Grundsätzen und Regeln jeder, welcher die wahre Kenntnißder Zeichnung zu erlangen wünscht,
unterrichtet werden müsse. Denn die wahre Methode lernt sich nicht durch schwebende und leicht angedeutete Umrisse, sondern durch
feste und scharf begränzte, bey welchen man die Härte und Strenge nicht fürchten darf; gerade wie in der Erlernung der Musik und
der Sprachen dort die Töne und hier die Sy Iben und Worte scharfund deutlich dem Schüler müssen angegeben werden, damit er zur
reinen Harmonie und zur fließenden Aussprache gelange.
Der neuern.
$. 46. Man vergleiche eine Zeichnung vom Raphael, Andrea del Sarto, oder Leonardo da Vinci, welche die Meister in ihrer Reinheit
und Genauigkeit der Umrisse sind, mit irgend einer Zeichnung von Correggio, Guido und Albano, welche für die Väter der Grazie
gehalten werden, und man wird sogleich begreifen, daß es mehr als eine Grazie in der Kunst giebt. Sie kann dem Raphael gewiß nicht
streitig gemacht werden; aber jene Strenge seiner Zeichnung hat vielen gegen die rundlich und sanft gehaltenen Formen Anderer so hart
geschienen, daß Malvasia an ihm eine steife, hölzerne (Statuina) Manier tadelt. Beym Correggio, Guido und Albano ist Alles Grazie;
aber da sie dieselbe bis zum Uebermaße suchten und einem jeden Th eile sanfte Ab- [111] rundung und Weichheit der Umrisse geben
wollten, sind sie bey einigen in den Tadel des Gezierten gefallen. Indem ich mir schmeichle, richtig bemerkt zu haben, woher diese
Beschuldigungen entstehen, behaupte ich zugleich, daß diese Künstler die neuern Praxiteles undApelles sind; Raphael, del Sarto und
da Vinci die Phidias, Polyclete undPolygnote. Zwischen den Einen und den Andern kann man gewissermaßen dieselbe Verschiedenheit
annehmen, welche in der Beredsamkeit zwischen Cicero und Demosthenes statt findet; dieser reißt uns mit Ungestüm fort, und jener
führt uns willig mit sich; der Eine läßt uns nicht Zeit, an die große von ihm aufgebotene Kunst und an die unendlichen Schönheiten
seines Styls zu gedenken, und in diesem erscheinen sie ungesucht und breiten sich mit einem allgemeinen Lichte aus über die Gründe
und den Gegenstand, den er behandelt.
$. 47. Die Zeit hat uns der Gelegenheit beraubt mit völliger Deutlichkeit bestimmen zu können, wie weit die Werke der vorgenannten
großen Meister der Kunst aus der ersten Klasse von der Grazie derer aus der zweiten Klasse, oder des Praxiteles undApelles entfernt
gewesen. Nichts destoweniger sind wir nicht aller Denkmäler beraubt, durch welche meine Behauptung mehr Licht und Klarheit
erhalten und der von mir angegebene Unterschied fühlbarer gemacht werden könnte.
[112] In einigen erhobenen Werken.
$. 48. Denn es haben sich einige erhobene Werke erhalten, aus welchen in Hinsicht der Handlung, im engern Sinne genommen,
das von mir Gesagte deutlich erhellt, obgleich diese Denkmäler wegen der Kleinheit ihrer Figuren nicht zu Beweisen für den
Ausdruck geeignet sind, ich meyne den des Gesichts, welcher daher an Statuen beobachtet seyn will; aber wir befinden uns auch
von dieser Seite in keinem gänzlichen Mangel.
$. 49. Die erhobenen Werke, von welchen ich rede, sind alle in dem sogenannten ältesten Style gearbeitet, und gehören zum
Theil wirklich jener alten Zeit und jenem Style an, oder sie sind Nachahmungen, die in den späteren Zeiten gemacht worden,
wie ich in dem vorhergehenden Kapitelgezeiget habe. Es ist zwar richtig, daß, so viel wir zu urtheilen vermögen, die Werke,
welche keine Nachahmungen sind, den Zeiten vor dem Phidias anzugehören scheinen. Aber ohne das Vor oder Nach zu beachten,
ist es gewiß, daß man den Styl ihrer Zeichnung in die Zeit vor der Einführung des Zierlichen in die Kunst, das heißt in die
Zeit vor dem Praxiteles setzen muß. Daher pflegt die Handlung jener erhoben gearbeiteten Figuren streng zu sein; die Umrisse
und die Muskeln sind empfindlich angedeutet, und der Mangel der Grazie offenbart sich in der [113] Stellung und Bewegung
des ganzen Körpers, besonders der Hände.
In zwey Statuen der Musen wovon die eine im Barberinischen Pallaste, die andere im Päbstlichen Garten auf dem Quirinale.
$. 50. In Ansehung der Statuen beschränke ich mich auf zwei; eine derselben ist eine Muse über Lebensgröße im Barberinischen