Trattato premiliare [vorläufige Abhandlung] · Kommentar
109
Pallaste und hält in der Hand eine Ley er von der Art, welche man Βάρβυτος nannte; nach einer im zweyten Abschnitte dieses Kapitels
mitgetheilten Vermuthungglaube ich, daß diese Muse von Ageladas, dem Meister des Polycletus, und folglich in der Zeit verfertigt ist,
als die Kunst sich der Vollkommenheit näherte. Man vergleiche diese Muse und besonders in Hinsicht des Kopfes mit einer andern im
Päbstlichen Garten auf dem Quirinale, die wenig über Lebensgröße, eine Ley er von gleicher Gestalt hält, und in der Einfachheit der
Bekleidung wie der geraden Falten jener ersten sehr ähnlich ist: und man wird finden, daß die Statue im Barberinischen Pallaste für
viel älter als die im Päbstlichen Garten muß gehalten werden. Jener kann man die Schönheit des Gesichts nicht absprechen; aber sie
ist eine gestrenge Schönheit ohne je sich sanft einschmeichelnde Grazie; die andere hingegen ist das lebendigste Bild der Grazie, und
zwar derjenigen, welche Liebe erweckt und bezaubert, so daß ich zu behaupten wage, man habe in [114] dieser Art noch keinen
alten Kopf gefunden, welcher mit ihr zu vergleichen wäre.
In einem Bacchus mit dem Kopfe des Apollo in der Villa Albani.
$. 51. Die andere zur Erklärung meiner Behauptung angeführte Statue ist ein Bacchus in der Villa Sr. Eminenz des Herrn
Alexander Albani, in welchem man den Styl der ursprünglichen Grazie und den der spätem Grazie vereint sehen kann. Der
Kopf dieses Bacchus ist der Statue nicht eigen, sondern ein Apollo, welcher zwar schön und von hoher Bildung ist, aber der
Mund hat nicht den lieblichen Zug, welchen man wünschen mögte, indem die Winkel so vertieft sind, daß sie einige Härte
verursachen. Dieses zeigt sich noch deutlicher bey Vergleichung dieses Kopfes mit zwey andern Apollo-Köpfen, welche diesem
in Gesichtszügen und in der Anordnung der Haare ähnlich sind. Der eine von ihnen ist im Capitolinischen Museum und der
andere mit der noch nicht ergänzten Statue, zu welcher er gehört, findet sich beym Bildhauer Herrn Cavaceppi. Diese beyden
Köpfe sind nicht weniger schön als der an der Statue des Bacchus; aber an beyden hat die Gestalt des Mundes mehr Grazie und
der Blick des Auges ist sanfter; daher gehört nach meinem Urtheile die Statue des Apollo und der Capitolinische Kopf zu dem
Style nach dem Praxiteles, und der dem Bacchus aufgesetzte Kopf ist aus der frühem Zeit. Das Eigenthümliche dieses Kopfes
[115] zeigt sich noch deutlicher durch den Gegensatz, in welchem er zu dem Körper steht, der nicht ihm, sondern, wie ich
sagte, dem Bacchus angehört; die hohe Schönheit dieses Körpers scheint in der Einbildungs-Kraft dessen, der ihn betrachtet,
das zu ersetzen, was dem Kopfe fehlt. Betrachtet man den Kopf allein und besonders, so sieht man wohl, daß er aus der Zeit
der ursprünglichen Grazie ist; ergänzt man sich aber in Gedanken auf der andern Seite die ganze Figur, so begreift man,
daß sie aus der Zeit ist, wo sich die gefällige Grazie in die Kunst einschmeichelte; auf diese Weise erscheinen dieser Bacchus und der
Vaticanische Apollo als Werke eines und desselben Künstlers.
(3,37 come ha composto Cesare Ripa la sua iconologia: Cesare Ripa [ca. 1555- ca. 1622], Iconologia overo Descrittione
dell Imagini universali cavate dall antichitä et dal altri luoghi, Roma 1593 (ab 1603 vielfach mit Illustrationen aufgelegt). Die
zahlreichen Aufl. belegen, daß die „Iconologia“ für die Künstler des Barock ein wichtiges, oft zu Rate gezogenes Handbuch
war. W. beurteilt es ziemlich negativ und wollte es durch seine Allegorie ersetzen. Seine markantesten Urteile zu Ripa: Allegorie
S. 23; ErläuterungS. 149 (KSS. 129).
Lit. zu Ripa: Rehm, KS S. 353 zu 56,13; Werner Gerlind, Ripa’s Iconologia: Quellen, Methoden, Ziele, Utrecht 1977; H. J. Zimmermann, „Die drey
Helden in dieser Wissenschaft“: Cesare Ripa, Johann Joachim Winckelmann und George Richardson, in: Antike Tradition und neuere Philologien,
Symposium zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel (Supplemte zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,
Philosophisch-historische Klasse) Heidelberg 1982 S. 79-105; C. Stefani: „Imagini cavate dall’antichita“: L’utilizzo delle fonti numismatiche nell „Icono-
logia“ di Cesare Ripa, in: Xenia antiqua 9, 2000 S. 59-78.
64,12 La bellezzapub ... non definirsi: Dieser und der folgende Absatz finden keine Entsprechung in der GK. Sie ersetzen
die umfangreichen Ausführungen zum „verneinenden Begriff“ der Schönheit in GK1 S. 142-148; in GK2S. 248-258 sind
diese Ausführungen sogar vermehrt worden (GK Text S. 240-250). Der Text in Aff zeichnet sich durch seine Kürze aus.
64.24- 25 ilcompimento della bellezza non esiste se non in Dio: Die Absätze bis S. 65,14 sind weitgehend wörtlich übersetzt
aus GK1 S. 149 (GKTextS. 250,22-33; 252,1-16).
65,15-16 /’ unitä e la semplicitä, di cuiparlo, e materiale e morale: Die Ausführungen zur sittlichen und körperlichen
Schönheit, zu Moral und Materie fanden sich in GK1 noch nicht. Erst in GK2S. 318-334 (GKTextS. 303-317) werden sie
wieder aufgegriffen und weit ausgebaut. Die sich hier anschließenden Bemerkungen über die Linien, die einen schönen Körper
formen, entsprechen weitgehend GK1 S. 152-153 (GKTextS. 254).
Lit. zu Ws Verständnis der im Körper gespiegelten sittlichen Schönheit: Kunst und Aufklärung im 18. Jh., Ausst.-Kat. Stendal 2005 S. 25-26, 45-47.
65.25- 26 mit Anm. 1 come ne’ sacerdoti di Cibele e di Diana: Strab. 14,1,23 (C641). Die gleiche Aussage findet sich schon
GK1 S. 152 (GKTextS. 254); ausführlicher zum selben Thema W. in GK2S. 268 (GKTextS. 259,13-14).
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Pallaste und hält in der Hand eine Ley er von der Art, welche man Βάρβυτος nannte; nach einer im zweyten Abschnitte dieses Kapitels
mitgetheilten Vermuthungglaube ich, daß diese Muse von Ageladas, dem Meister des Polycletus, und folglich in der Zeit verfertigt ist,
als die Kunst sich der Vollkommenheit näherte. Man vergleiche diese Muse und besonders in Hinsicht des Kopfes mit einer andern im
Päbstlichen Garten auf dem Quirinale, die wenig über Lebensgröße, eine Ley er von gleicher Gestalt hält, und in der Einfachheit der
Bekleidung wie der geraden Falten jener ersten sehr ähnlich ist: und man wird finden, daß die Statue im Barberinischen Pallaste für
viel älter als die im Päbstlichen Garten muß gehalten werden. Jener kann man die Schönheit des Gesichts nicht absprechen; aber sie
ist eine gestrenge Schönheit ohne je sich sanft einschmeichelnde Grazie; die andere hingegen ist das lebendigste Bild der Grazie, und
zwar derjenigen, welche Liebe erweckt und bezaubert, so daß ich zu behaupten wage, man habe in [114] dieser Art noch keinen
alten Kopf gefunden, welcher mit ihr zu vergleichen wäre.
In einem Bacchus mit dem Kopfe des Apollo in der Villa Albani.
$. 51. Die andere zur Erklärung meiner Behauptung angeführte Statue ist ein Bacchus in der Villa Sr. Eminenz des Herrn
Alexander Albani, in welchem man den Styl der ursprünglichen Grazie und den der spätem Grazie vereint sehen kann. Der
Kopf dieses Bacchus ist der Statue nicht eigen, sondern ein Apollo, welcher zwar schön und von hoher Bildung ist, aber der
Mund hat nicht den lieblichen Zug, welchen man wünschen mögte, indem die Winkel so vertieft sind, daß sie einige Härte
verursachen. Dieses zeigt sich noch deutlicher bey Vergleichung dieses Kopfes mit zwey andern Apollo-Köpfen, welche diesem
in Gesichtszügen und in der Anordnung der Haare ähnlich sind. Der eine von ihnen ist im Capitolinischen Museum und der
andere mit der noch nicht ergänzten Statue, zu welcher er gehört, findet sich beym Bildhauer Herrn Cavaceppi. Diese beyden
Köpfe sind nicht weniger schön als der an der Statue des Bacchus; aber an beyden hat die Gestalt des Mundes mehr Grazie und
der Blick des Auges ist sanfter; daher gehört nach meinem Urtheile die Statue des Apollo und der Capitolinische Kopf zu dem
Style nach dem Praxiteles, und der dem Bacchus aufgesetzte Kopf ist aus der frühem Zeit. Das Eigenthümliche dieses Kopfes
[115] zeigt sich noch deutlicher durch den Gegensatz, in welchem er zu dem Körper steht, der nicht ihm, sondern, wie ich
sagte, dem Bacchus angehört; die hohe Schönheit dieses Körpers scheint in der Einbildungs-Kraft dessen, der ihn betrachtet,
das zu ersetzen, was dem Kopfe fehlt. Betrachtet man den Kopf allein und besonders, so sieht man wohl, daß er aus der Zeit
der ursprünglichen Grazie ist; ergänzt man sich aber in Gedanken auf der andern Seite die ganze Figur, so begreift man,
daß sie aus der Zeit ist, wo sich die gefällige Grazie in die Kunst einschmeichelte; auf diese Weise erscheinen dieser Bacchus und der
Vaticanische Apollo als Werke eines und desselben Künstlers.
(3,37 come ha composto Cesare Ripa la sua iconologia: Cesare Ripa [ca. 1555- ca. 1622], Iconologia overo Descrittione
dell Imagini universali cavate dall antichitä et dal altri luoghi, Roma 1593 (ab 1603 vielfach mit Illustrationen aufgelegt). Die
zahlreichen Aufl. belegen, daß die „Iconologia“ für die Künstler des Barock ein wichtiges, oft zu Rate gezogenes Handbuch
war. W. beurteilt es ziemlich negativ und wollte es durch seine Allegorie ersetzen. Seine markantesten Urteile zu Ripa: Allegorie
S. 23; ErläuterungS. 149 (KSS. 129).
Lit. zu Ripa: Rehm, KS S. 353 zu 56,13; Werner Gerlind, Ripa’s Iconologia: Quellen, Methoden, Ziele, Utrecht 1977; H. J. Zimmermann, „Die drey
Helden in dieser Wissenschaft“: Cesare Ripa, Johann Joachim Winckelmann und George Richardson, in: Antike Tradition und neuere Philologien,
Symposium zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel (Supplemte zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,
Philosophisch-historische Klasse) Heidelberg 1982 S. 79-105; C. Stefani: „Imagini cavate dall’antichita“: L’utilizzo delle fonti numismatiche nell „Icono-
logia“ di Cesare Ripa, in: Xenia antiqua 9, 2000 S. 59-78.
64,12 La bellezzapub ... non definirsi: Dieser und der folgende Absatz finden keine Entsprechung in der GK. Sie ersetzen
die umfangreichen Ausführungen zum „verneinenden Begriff“ der Schönheit in GK1 S. 142-148; in GK2S. 248-258 sind
diese Ausführungen sogar vermehrt worden (GK Text S. 240-250). Der Text in Aff zeichnet sich durch seine Kürze aus.
64.24- 25 ilcompimento della bellezza non esiste se non in Dio: Die Absätze bis S. 65,14 sind weitgehend wörtlich übersetzt
aus GK1 S. 149 (GKTextS. 250,22-33; 252,1-16).
65,15-16 /’ unitä e la semplicitä, di cuiparlo, e materiale e morale: Die Ausführungen zur sittlichen und körperlichen
Schönheit, zu Moral und Materie fanden sich in GK1 noch nicht. Erst in GK2S. 318-334 (GKTextS. 303-317) werden sie
wieder aufgegriffen und weit ausgebaut. Die sich hier anschließenden Bemerkungen über die Linien, die einen schönen Körper
formen, entsprechen weitgehend GK1 S. 152-153 (GKTextS. 254).
Lit. zu Ws Verständnis der im Körper gespiegelten sittlichen Schönheit: Kunst und Aufklärung im 18. Jh., Ausst.-Kat. Stendal 2005 S. 25-26, 45-47.
65.25- 26 mit Anm. 1 come ne’ sacerdoti di Cibele e di Diana: Strab. 14,1,23 (C641). Die gleiche Aussage findet sich schon
GK1 S. 152 (GKTextS. 254); ausführlicher zum selben Thema W. in GK2S. 268 (GKTextS. 259,13-14).