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Die Philosophien verhalten sich wie die Cultursysteme,
denen sie entstammen: die kantische Philosophie steht der grie-
chischen gegenüber, wie dem Jünglinge der Mann. Der Blick
der Jugend hastet schönheitstrunken an der Blüthe; des Mannes
Sorge hängt an der reisenden Frucht. Drum mag der sertige
Sinn des Mannes Freude haben an dieser Klarheit, mit der sich
in der Reflexion die Gestalten des srüheren Lebens darstellen:
aber auch sein Blick wird mit dem Genuß der Erinnerung an
der Zeit der Unbesangenheit hasten, in der die Blüthe selbst
ihre dustige Schönheit entfaltete.

Dürsen wir so den Gegensatz griechischer und deutscher
Philosophie bestimmen, so liegt darin allein noch keine Veur-
theilung, sondern nur eine Constatirung der Thatsache. Mög-
lich, daß diese Reflexion das Höhere, das Werthvollere ist, —
möglich auch, daß sie nur ein Zeichen des alternden Menschen-
geistes ist. Wir aber dürsen nicht darüber klagen, daß jene
harmonische Einfachheit, jene naive Schönheit, jene unbesangene
Harmonie des Denkens, mit der die griechische Philosophie er-
kennend in das Weltall hinausstürmte, uns nicht mehr möglich
ist. Wir haben nicht mehr zu wählen, sondern nur zu be-
greifen: wir müssen uns klar darüber sein, daß jene Unbe-
sangenheit dahin ist, und daß wir in der Reflexion den Ersatz
sür dasjenige haben, was den Griechen in schöner Täuschung
sich darstellte. Denn sürwahr thöricht wäre es, zu verlangen,
daß derselbe Banm zur selben Stunde Blüthe und Frucht
bringen solle.

Windelba » d , Präludicn.

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