Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Windelband, Wilhelm
Präludien: Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie — Freiburg i. B. [u.a.], 1884

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.19220#0162
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
148

Am 29. Mai 1770 zu Lauffen am Neckar, unweit von
Heilbronn, geboren, wuchs der frühverwaiste Knabe in Nür-
tingen unter der Leitung einer schlichtfrommen und feinfühligen
Mutter zu hoffnungsvoller Reife heran. Und noch eine größere
Mutter, die schöne Natur feiner Heimat, nahm ihn an ihre
Bruft, und in die jugendliche Dichterseele prägte fich unaus-
löschlich der zauberische Rciz des Naturlebens. Auf der latei-
nischen Schule zu Nürtingen war der frühreife Schelling sein
Genosse in wissenschaftlicher Vorbildung und theilte fchon dort mit
ihm die Begeisterung für das clasfifche Alterthum. Der Wunsch
der Mutter, dem er, wie es fcheint, Anfangs ohne Widerftreben
folgte, hatte ihn zum Theologen bestimmt, und dies üedingte
nach damaliger Einrichtung eine feminaristische Vorbildung,
welche er zuerft in Denkendorf, nur eine Stunde von Nürtingen
entfernt, und fpüter in Maulbronn genoß. Hier wurden die
ersten Jugendsreundschaften geschlossen, das erste harmlose Liebes-
abenteuer bestanden, und hier begann auch fchon, wie es dann
zu geschehen pflegt, der Born der Poesie zu fließen. Ein
Gesetz, demjenigen der organifchen Entwickelung ähnlich, scheint
es zu verlangen, daß auch das geistige Lcben des Menschen in
kleinem Maßstabe die Stadien der vergangenen Generationen
durchmache: so ist das Sternbild, in welchem Hölderlin's Dich-
tung aufgeht, dasjenige Klopstock's, umwallt von den fenti-
mentalen Nebeln der Osfian'schen Phantasie.

Größere Dimensionen nahm diese Entwickelung in jeder
Richtung auf der Univerfitüt Tübingen an, die der geistvolle,
liebenSwürdige Jüngling im Herbst 1788 bezog. Er trat hier
in das fog. Stift ein, jene ausgezeichnete Studienanstalt, aus
deren Schvße bis auf die ncüeste Zeit zahlreiche bedeutende
Münner hervorgegangen find. Wol muthet diefelbe ihren Zög-
lingen im Gegenfatz zu der fonftigen Freiheit des akademischen
Dascins durch die ftrenge Regelung des Lebens und Arbeitens
 
Annotationen