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Windelband, Wilhelm
Präludien: Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie — Freiburg i. B. [u.a.], 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.19220#0185
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schreitet, um so geringer wird selbstverständlich die Krast der
gesellschastlichen Ordnung, deren festeste Stütze die Gleichheit
des Culturbewußtseins in den Jndividuen bildet.

Schlimmer noch als dieser Mangel einer wahrhast uni-
versellen Bildnng ist das Surrogat, mit dem wir uns über
denselben hinwegzutäuschen suchen. Außer Stande, den Vil-
dungsgehalt der fremden Sphären bis in seine Tiese und seine
Besondernng zu durchdringen, hilft sich das moderne Jndi-
viduum mit einem oberflächlichen DilettantismuS, der von Allem
den Schaum abschöpst und dcn Gehält licgen läßt. Dieser
Dilettautismus ist komisch, wo er sich in den Gesprächen des
Salons breit macht; aber wo er auf den Gassen gepredigt
wird, ist er tragisch. Wir lachen, wenn wir den Backfisch über
die Vorzüge Goethäs und Schiller's sein naseweises Urtheil hin-
wersen hören: aber surchtbar ernst ist die Gestält des Volks-
redners, der mit den unverdauten Brocken wissenschastlicher
Theorien prunkt und, was er selbst nicht verstanden hat, als
Wahrheit unter das Volk wirft.

Sehen wir diesen Dilettantismus von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt zu drohenderer Gesahr heranwachsen, so können wir uns
nicht wundern, wenn wir ihn in Deutschland eben so gut wie
anf dem ganzen Continent als den Typus des öffentlichen
Lebens wiederfinden. Nicht von dem Zeitverbrauch spreche ich,
mit dem wir so vielfach tändelnd nur uns amüsiren, wenn wir
Belehrung oder ästhetische Erbauung zu suchen vorgeben; auch
nicht davon, daß die ernste und wahre ästhetische Bildung
unter uns um so seltener geworden ist, je mehr man bemüht
gewesen ist, die Genüsse der Knnst Jedermann zugänglich zu
machen: es hat sich eben nur die alte Ersahrung wiederholt,
daß, wenn man das allgemeine Niveau höher stellt, dies auf
Kosten der Höhe und Größe des darüber Hinausragenden geschieht.
Das Bedenkliche, was ich meine, ist, daß dieser Dilettantismus
 
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