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vollständrg in sich aufzunchmen. Die Gesammtheit unserer
! Cultur ist ein idealer Begriff, der iu keinem individuellen Be-
wußtsein mehr realisirt ist. Jeder von uns ist in dem großen
Getriebe des socialen Daseins an einem bestinunten Puncte ein-
gefügt, und er ist von da aus nicht mehr im Stande, den
ganzen Umkreis der übrigcn Thatigkeiten und ihres geistigen
Gehaltes zu überschauen und iir sich aufzunehmen. Jn die Arbeit
des Berufs eingespannt und vermöge der steigenden Anforde-
rungen desselben das ganze Leben hindurch angespannt, bekommt
der indibiduelle Geist gewissermaßen Scheuklappen, welche ihm
nur ein beschränktes Gesichtsseld zu übersehen gestatten. Eine
universalistische Bildung, >vie sie der Bürger Athens besaß, wie
sie die großen Männer der Renaissance neu erwarben, wie sie
Deutschlands Dichter und Denker iu Hölderlin's Tagen wenig-
stens anstrebten, ist heutzutage selbst sür das Genie unmöglich.
Die Cultur ist zu breit geworden, um vom Standpunct des
Jndividuums aus übersehen zu werden. Diese Unmöglichkeit
trägt eine große sociale Gesahr in sich. Je Vereinzelter die
Berussthätigkeit des Jndividuums wird, um so sremder und
kenntnißloser steht es den Jnteressen gegenüber, welche den
Lebensgehalt des andern ebenso einseitigen Jndividuums aus-
machen. Die Berussarten, die Stände, die verschiedenen Schichten
der Gesellschast werden aus diese Weise mehr und mehr einan-
der entsremdet und hören bald ganz aus, sich gegenseitig zu
verstehen. Das Bewußtsein des einheitlichen Zusammenhanges,
der alles Cülturleben beherrschen soll, geht Schritt sür Schritt
verloren, und die Gesellschaft droht in Gruppen und Atome
zn zersallen, zwischen denen es nicht mehr das Bindemittel des
geistigcn Verständnisses, sondern nur nvch dasjenige der äußeren
Noth und Nothwcndigkeit giebt. So wird die moderne Gesell-
schaft mehr und mehr zu einem Bilde der Zerrissenheit,. und
je schneller dieser Proceß mit natürlicher Nothwendigkeit fort-
 
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