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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 7.1890

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https://doi.org/10.11588/diglit.15409#0158
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Es nahm sodann Ferroul, Mitglied deS französischen Parlaments,
das Wort, gleichfalls Grüße des Kongresses in Lille überbringend. Die
französischen Arbeiter folgen mit gespannter Aufincrksamkcit dem Kampfe der
deutschen Sozialdemokratie, deren glorreicher Wahlsieg das Sozialistengesetz
zu Boden schincttertc, und fühlen sich mit ihr einig in Taktik und Ziel, einig
im Kampfe gegen den Kapitalismus und Despotismus. (Stürmisches Bravo.)

Liebknecht über-
setzte beide Reden,
welche in französi-

scher Sprache gehal- //,

teil worden waren, Tj 7

ins Deutsche und ^

richtete Worte der , .

Begrüßung in fran- ^

zösischer Sprache an M-s Ä g/ JHNIL 11 ■ %,/ßh/,// --

die beiden Ehren- 4*

gaste, worauf er ein

Hoch auf das sozia-

listische Frankreich

ausbrachte, in wel-

ches alle Anwesen- ///

den begeistert ein- f %

ftmunten.

Als auslän-

dische Gäste waren \vr. vWö

ferner cingctroffcn

Frau Dr.' Ave- IW

ling, die Tochter äE W

von Karl Marx, \Wa

welche Delegirte der * 1 fc? r''” 11/ vV

Londoner Gasar- 1 Wl'IlBSlfW iAliö '!// ^ — f ,

beiter war. Rechts- \ UW,- f

anwalt Scherrer ^ 1 ' / ‘

von St. Gallen und Die Frauen au

W n l l s ch l 8 g e r

aus Basel erschienen als Vertreter der Schweiz. Die Zahl der Bcgrüßungs-
telegramme und Adressen vom In- und Auslände stieg täglich. Im Ganzen
sind 56 Adressen und 252 Telegramme eingetroffen.

Dir Frauen aus dem Parteitag.

Es war wohl das erste Mal, daß in Deutschland an einer politischen
Dclegirtcn-Versammlung Frauen als aktive Mitglieder thcilnahmen. Die

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Sozialdemokratie beweist auch in dieser Hinsicht, daß sic an der Spitze der
modernen Kulturbcwegung marschirt. Es waren zum Sozialistenkongreß
vier Frauen delcgirt, Frau Ihrer, Fran Stcinbach, Frau Blohm und
Frau Gundelach. Dieselben zeigten sich nicht nur vollkommen durch-
drungen von dem Ernst und der Bedeutung der Sache, sondern wußten auch
rhetorisch ihre Grundsätze und Ideen trefflich darzulcgen. Dies gilt in

erster Linie von
Frau Ihrer, welche

J|jl||| bei der General-

debattc über den

,W Bericht der Partci-

Wjff lcitung Gelegenheit

nahm, über die Ar-
O licitcvinnraklucg.

" Bei uns handele es

^ sich lediglich um die

v ^ soziale Lage der

' —'—‘ 1|\ Frauen, die Be-

j~^ j l strcbungcn seien die-

k I r selben, wie die so-

1 zialistische Beweg-

dem Parteitag. ung der Männer.

Die Redncrin be-
klagte und tadelte, daß für die Frauenbewegung so wenig Sympathie bei
den Männern vorhanden sei selbst unter Genossen, und ermahnte die Männer,
sic möchten vor Allem ihre eigenen Frauen dazu anhalten, daß sic lesen und
sich unterrichten über die Bewegung, die ja für die Frauen genau so wichtig
sei, wie für die Männer. „Wir wären viel weiter", betonte die Redncrin,
„hätten wir die Unterstützung der Männer immer und überall gehabt." Sie
plaidirtc in erster Linie für ein Prcßorgan, welches im Entwurf schon fertig
ist und speziell die Frauenbewegung fördern soll. Die in Form und Inhalt

schwarzes Haar nicht in Strähnen des Umsturzes ungezügelt in die Welt
hinein flatterte, sondern in einer gesitteten Frisur geordnet war und in
einen schlichten Zopf — denke Dir, einen Zopf, dem Symbol der Reaktion!
— auslief. Ich kann mir diesen Zopf nur als erzieherische Wirkung des
Sozialistengesetzes erklären. — Telegramme aus allen Ländern und Reden
ausländischer Sozialisten cröffnctcn den heutigen Tag. „Da sicht man
deutlich die Vaterlandslosigkeit der Sozialdemokratie", war inein erster Ge-
danke. Aber ich muß Dir gestehen, daß dieser Gedanke sich in Dunst aus-
löstc, je länger ich die fremden Abgeordneten reden hörte, ja — Gott ver-
zeih' mir meine Ketzerei — ich fühlte fast etwas wie patriotischen Stolz
über die Sympathiebezcugungcn, welche von allen Herren Ländern der
deutschen Arbeiterpartei — was willst Du? cs sind nun einmal unsere
Brüder, wenn auch verirrte — cntgcgcngebracht wurden. Und noch eins
muß ich Dir bekennen: daß cs auf mich den Eindruck machte, dieser Inter-
nationalismus, wie er sich hier begeistert kundgab, ist vielleicht für Menschcn-
glück und Völkerwohl am Ende doch ersprießlicher, als jene chauvinistischen
Phrasen und Rodomontaden, die wir alljährlich am Sedansfest aufgctischt
bekommen. Bon einem warmen Hauch der Völkerverbrüderung wurden wir
umweht und ich habe, leicht erregbar wie ich bin — aber sag' es ja Niemand,
liebe Lotte — am Schluß der Reden Beifall geklatscht. Es mag eine Art
Rausch über mich gekommen sein; hoffentlich werde ich bald wieder ernüchtert,
vorläufig bin ich cs noch nicht ganz. Auch die Debatten konnten den Eindruck
nicht verwischen. Denn — grausame Enttäuschung — die Anklagen der
Opposition gegen die Fraktion waren gar zu fadenscheinig. Der schwangere
Berg der Opposition hat ein lächerliches Mäuslcin geboren. Wahrhaftig,
ein glänzenderes Zeugniß hätte der bisherigen Parteileitung nicht ausgestellt
werden können, als durch diese sogenannte Opposition, deren angebliche
Hnndertpfnndcr nur leichter Vogeldunst gewesen sind. Wohl einer Regierung
oder Parteileitung, welcher ihre Gegner nichts anderes vorzuwersen haben,
als solche Kindereien. Einen sehr guten Eindruck hat cs auf mich gemacht,
daß man dem Vertreter der Opposition in keiner Weise zu nahe treten ließ
und ihn mit rücksichtsvollster Loyalität behandelte. Bei dieser Gelegenheit
sah und hörte ich auch den Bebel zum ersten Mal. Donner und
Doria! haut der eine schneidige Klinge; er kam mir vor wie ein Husarcn-
gcncral, aber gruseln hat er mir auch nicht gemacht. Im Gegcntheil, als
er den Kassabericht erstattete und die überraschende Mittheilung machte, daß
die Parteikricgskasse trotz Sozialistengesetz und seiner kolossalen Gcldopfer
immer noch etliche Hunderttausend Mark enthält, da regte sich in meinem
gcschäftsmännischen Busen Plötzlich ein Zug der Sympathie für diese verflixten
Kerls und ich sagte mir: die können keine utopistischen Schwärmer sein,
sondern praktische Menschen.

Als Dessert zur gestrigen Vormittagssitzung bekam ich die Frau Ihrer
zu sehen und zu hören, es ist die mit dem blauen Kleid und dem Zopf.

Nun, liebe Lotte, Gesicht und Stimme haben noch weniger megärcn- und
hyäncnhaftes an sich als ihr Kleid: ein rundes, volles, molliges Weibchen
mit lachenden Augen, Doppelkinn und geschliffener Zunge. Welche vortreff-
liche Gardincnpredigerin die sein muß! Und noch eine andere interessante
Dame trat heute auf den Schauplatz, Frau Eleanor Aveling aus London,
die Tochter des großen Marx, wie mir ein Sozialist sagte, eine aninuthige
Erscheinung von höchst einnehmenden, geistvollen Gcsichtszttgen.

Halle a. S., 15. 10., Mittags.

Liebe Lotte! Ich habe einen großmächtigcn Kater und war soeben bemüht,
ihm mit Sodawasser und Hering bcizukommcn. Eine große Nacht liegt
hinter mir. Die Hallenser gaben den Delcgirtcn einen Kommers in dem
großen, prächtigen Saal des „Prinzen Karl". Selbstverständlich war auch
ich dabei, um zu sehen, wie die Sozialdemokraten sich amüsircn. Ich muß
Dir sagen, Lotte, daß unsere Bürgervcreine sich dagegen verstecken können.
Eine stolze Freude verklärte die Gesichter beiderlei Geschlechter und ich begriff,
daß die Arbeiter bei dem Feiern ihrer Feste einen doppelten Zweck verfolgen
und wohl auch erreichen. Sic wollen in erster Reihe ihre Zusammengehörigkeit
stärken und erst in zweiter Reihe sich amüsiren. Wenn wir unsere Bnrgcr-
museumsfcste begehen, so besehen wir zuerst die Wein- und Speisenkarte. Ist
cs damit gut bestellt, so sind wir frohen Herzens, — für die Begeisterung sorgt
außer dem Champagner irgend ein Anhänger Bismarck's und die Militärmusik
mit ihren Weisen: „Ich bin ein Preuße" oder „Du bist verrückt mein Kind".

Als das Konzert oder der Kommers beendigt war, begab ich mich mit
mehreren Delegirten in den Augustiner, wo ich mich köstlich unterhielt wie
schon lange nicht mehr. Alle hielten mich für einen Sozialdemokraten und
ich trank mit Allen Brüderschaft. Liebe Lotte, mir sind an diesem Abend
Lichter im Kopfe aufgegangen, Gedanken meine ich, die mir die Perspektive
in eine ganz neue Welt öffneten.

Ich sage Dir: es giebt Dinge zwischen Danzig und Halle, von denen
sich die Weisheit unserer Diplomaten, Gelehrten, Bankdirektoren, Fabrikanten
und Handelsherren nichts träumen läßt m'ld mein Katzenjammer ist nicht
blos ein physischer.

Das Augustinerbicr ist ein Schelm. Du weißt, ich kann viel vertragen,
aber was zu viel ist, ist zu viel, sagt unser alter Jochcm. Mit unsicheren
Schritten schwankte ich nach Hause über den Marktplatz. Ich kam vor dem
steinernen Roland vorbei und siehe da, als ich ihn anstierte, kam plötzlich
Leben in das Steinbild, cs fing an, sich zu bewegen, die Wimpern zuckten,
die Augen funkelten in feurigem Glanz, die Hand schwang das Schwert
wie im Zweikampf. Während ich vor Staunen gebannt war und nicht
wußte, ob cs ein Traum oder Wirklichkeit, heftete er plötzlich seine Glüh-
augen auf mich und donnerte mich an: „Mensch, was willst Du hier!"
Der Schrecken lähmte meine Zunge, ich konnte kaum ein Wort herausbringen,
 
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