Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 119 des „Wahren Jacob" gelangt am 14. Februar 1891 zur Ausgabe.

952

-■»ös- Moritz Rittinghausen. -d-»-

Geboren 13. November 1814 zu Hückeswagen. — Gestorben 39. Dezember 1890 zu Ath (Belgien).

Sechsundsiebenzig Jahre hat er vollendet und wenn er auch still blieb
in der letzten Zeit, so hat sein allezeit reger Geist doch sicherlich mit hoher
Freude die Triumphe der Sozialdemokratie verfolgt, die ihm zu erleben
beschieden waren: die Wahlsiege vom Februar 1890, den Fall des Sozialisten-
gesetzes und den Kongreß zu Halle.

Als Kind des fröhlichen Rheinlandes ward er sehr früh von den
sozialistischen Ideen erfaßt, die in den dreißiger und vierziger Jahren am
Niederrhein eine so starke Bewegung hervorriefen. Er nannte sich immer
mit Vorliebe einen der ältesten Sozialdemokraten Deutschlands. In die

größere Oeffentlichkeit trat er das erste Mal im Revolutionsjahr 1848, als
ihn das Vertrauen seiner Mitbürger zu Köln in das Vorparlament nach
Frankfurt berief. Begeistert für die Volkssache, rief er dort den schwatzhaften
und zaudernden Professoren, die sich aus Furcht vor dem Volke an die
Regierungen anklammerten, zu: „Die deutschen Regierungen bestehen nicht
mehr in Folge der Revolution!" — ein Wort, das damals einen tiefen
Eindruck machte und heftige Proteste seitens der servilen und reaktionären
Elemente hervorrief. Zu jener Zeit ließ er auch seine Schrift über „Die
Organisation der Staatsindustrie" (Köln 1848) erscheinen.

Da er von dem Frankfurter Parlament nichts erhoffte, mochte er nicht
mehr in Deutschland bleiben und wandte sich nach Belgien und Frankreich,
wo er schon früher Anknüpfungspunkte gewonnen hatte. Zu Paris führte
er sich bald und leicht in die literarische und politische Welt ein und er ward
des Französischen so mächtig, daß er später oft sagte,
es sei ihm angenehmer, französisch als deutsch zu
schreiben.

Zu Paris warf Rittinghausen in die Verwirrung,
aus der später die unbestrittene Diktatur des Aben-
teurers Louis Napoleon Bonaparte hervorging, einen
zündenden Gedanken. Er ließ nämlich in dem Blatte
„vamoerutia xaeitigua" mehrere Artikel erscheinen,
welche betitelt waren: „Die direkte Gesetzgebung
durch das Volk oder die wahre Demokratie."

In diesen Artikeln unterwarf er den Parlamentaris-
mus einer so schonungslosen Kritik, wie sie damals,
mit Ausnahme der „Neuen Rheinischen Zeitung" von
Karl Marx und Friedrich Engels, nur wenige Zei-
tungen gewagt hatten. Rittinghausen betonte, die
gesetzgebenden Versammlungen hätten zwar keinen
Mangel an Ideen gehabt, wohl aber hätten ihnen
die Mittel zur Ausführung derselben gefehlt. Er
führte dies auf die Schäden des Repräsentativsystems
zurück und empfahl an Stelle dessen die direkte

Abstimmung durch das Volk, resp. das Vorschlags-
und Verwerfungsrecht des Volkes. Das Repräsen-
tativsystem selbst bezeichnete er als veraltet und nicht
demokratisch genug, indem ein Vertretungskörper
niemals die vollen und allgemeinen Interessen des Volkes selbst wahren könne.

Diese den Franzosen — wenigstens der ungeheuren Mehrzahl der-
selben — damals noch neue Idee erregte lebhaft die Geister und es ent-
spann sich eine sehr interessante Diskussion. Die Franzosen nahmen in

ihrer lebhaften Art für und gegen den Vorschlag Rittinghausen Partei.
Victor Considärant, ein Anhänger von Fourier und der Begründer
mißglückter sogenannter sozialistischer Kolonien, nahm die Idee auf und
verfocht sie mit vielem Eifer; auch Ledru-Rollin hatte sie sympathisch
begrüßt. Andererseits hatten Proudhon und Louis Blanc sich gleich
dagegen ausgesprochen und bekämpften in der Folge sehr heftig den Gedanken
der direkten Gesetzgebung durch das Volk. Louis Blanc richtete eine beson-
dere Schrift gegen Rittinghausen, in welcher er die Gegner des Repräsen-
tativsystems als „Girondisten", d. h. als Gemäßigte bezeichnete. Er sagte,

die direkte Gesetzgebung müsse zur Zersplitterung des Staates führen und
was dergleichen alberne Einwände mehr sind.

Den deutschen Sozialisten war die Idee der direkten Gesetzgebung selbst-
verständlich auch nicht unbekannt gewesen, aber Keiner hatte sich ihr mit
solcher Vorliebe und mit solchem Eifer gewidmet, wie Rittinghausen. Schon
1848 hatte er in Versammlungen diesen Gedanken zur Sprache gebracht und
war mit demselben einer sympathischen Ausnahme begegnet. Aber Alles war
im Lärm des Revolutionsjahres verhallt

Als Rittinghausen nach Deutschland zurückgekehrt war, nahm er auch
seine Thätigkeit für die direkte Gesetzgebung wieder auf. Inzwischen war
die sozialistische Bewegung in Fluß gekommen und Rittinghausen schloß sich
der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Eisenacher Programms an. Auf dem
Kongresse zu Eisenach 1869 setzte er die Aufnahme der Forderung der
direkten Gesetzgebung durch das Volk in das Eisenacher Programm durch
und motivirte seinen Vorschlag so vortrefflich, daß derselbe ohne Widerspruch
angenommen wurde. Er deckte die großen Schäden der Repräsentativ-
Körperschaften auf und wies auf das Beispiel der Schweiz hin. Er verwarf
aber die Bezeichnung „Referendum", denn er wollte, daß das Volk durch
seine Abstimmung nicht nur sollte Vorschläge ablehnen, sondern auch solche
aus seiner eigenen Initiative hervorgegangene zum Gesetz erheben können.

Seitdem hält die Sozialdemokratie an der direkten Gesetzgebung durch das
Volk fest, sobald es sich um die Formulirung ihrer Programmforderungen
handelt.

Rittinghausen ließ seine Schriften über die direkte Gesetzgebung durch
das Volk in fünf Heften auch in deutscher Sprache erscheinen. Sie trugen
den Titel „Sozialdemokratische Abhandlungen" und die Hefte ent-
hielten: 1) Die Philosophie der Geschichte; 2) lieber die Nothwendigkeit der
direkten Gesetzgebung durch das Volk; 3) Die unhaltbaren Grundlagen des
Repräsentativ-Systems; 4) lieber die Organisation der direkten Gesetzgebung
durch das Volk; 5) Widerlegung der gegen die direkte Gesetzgebung durch
das Volk gerichteten Einwürfe.

Diese Schriften enthalten ein reiches einschlägiges Material und bilden
eine vortreffliche Anleitung für Jeden, der sich mit der Frage der direkten
Gesetzgebung näher beschäftigen will. Sie haben das Verdienst, die direkte
Gesetzgebung in Deutschland populär und — namentlich bei der deutschen
Arbeiterwelt — in ihrer vollen Bedeutung verständlich gemacht zu haben.

Rittinghausen betheiligte sich auch eifrig an der sozialdemokratischen
Agitation. In Köln, wo er sich dauernd niedergelassen hatte, und in dessen
Umgegend trat er häufig in politischen Versammlungen als Redner auf;
auch hatte er mit den anderen Fraktionen der Sozialdemokratie, die damals
getrennt marschirten, manchen Strauß zu bestehen. So war er bald eine
den Arbeitern von Rheinland und Westfalen besonders bekannte Persönlich-
keit und 1877 wählte ihn der Solinger Wahlkreis
zu seinem Abgeordneten. Rittinghausen siegte in
der Stichwahl mit 10,600 Stimmen über seinen
Gegner.

Im Reichstag war R'ttinghausen ein pflicht-
getreuer und gewissenhafter Abgeordneter und man
sah den alten Mann mit dem einfachen Wesen und
dem dichten weißen Haar in keiner Sitzung fehlen.
Auch an der Berathung des ersten Arbeiterschutz-
gesetzes iu der sozialdemokratischen Fraktion von 1877
hat er sich eifrig betheiligt.

Bei den Neuwahlen von 1878 ward Ritting-
hausen unter dem Druck der Reaktion nicht wieder
gewählt; aber schon 1881 übertrug ihn der Solinger
Wahlkreis mit über 9000 Stimmen das Mandat
zum Reichstag abermals.

In der Legislaturperiode von 1881—84 stellte
Rittinghausen den Antrag auf Vermehrung der
Wahlkreise, der natürlich nicht angenommen wurde,
obwohl seine Berechtigung und Zweckmäßigkeit von
Niemanden bestritten werden konnte.

Auch die gegnerische Presse unterließ nicht,
bei Rittinghausen's Tode zu betonen, daß ihm die
Stadt Köln zu großem Danke verpflichtet sei. Bei
der Gelegenheit der Stadterweiterung zu Köln war es Rittinghausen, der
mit vieler Energie das Eigenthumsrecht der Stadt an den Festungswerken
verfocht.

Um diese Zeit brach die bekannte Differenz Rittinghausens mit der
Parteileitung aus. Der Grund des Streits war ein taktischer; mit dem
Programm und den Prinzipien der Partei hatte die Sache nichts zu thun.
Aber es kam doch so weit, daß Rittinghausen bei den Wahlen von 1884
als Gegner der Parteileitung kandidirte. Er mußte, wie vorauszusehen,
gegen den offiziellen Kandidaten der Partei unterliegen und zog sich dann
aus dem politischen Leben zurück.

Die Sozialdemokratie hat diesen Streit längst vergessen und der Name
Rittinghausen hat bei ihr seinen gewohnten guten Klang. Um dieses Streites
willen werden Rittinghausens Verdienste, seine theoretischen und praktischen
Arbeiten wahrlich nicht geringer angeschlagen. Er ist ein aufrichtiger und
unermüdlicher Förderer der Arbeitersache und des Sozialismus gewesen.
Dabei hat er manchmal seine Eigenheiten gehabt, wie sie eigentlich ein jeder
Mensch hat.

An seinem Grabe wurden von katholischen Geistlichen religiöse Zere-
monien vorgenommen, was man wohl auf Rechnung der Anverwandten setzen
muß, bei denen sich Rittinghausen gerade aufhielt, als ihn der Tod antrat,
denn er selbst hat sich, wie der Parlaments - Almanach ausweist, stets als
Freidenker bezeichnet.

Tie deutschen Arbeiter werden „den Alten von Köln" immer in gutem
Andenken halten, denn er hat gar viel gethan für die Befreiung der unter-
drückten Klassen. Sein Gemüth war wärmer, als man ihm ansah. In
traulicher Gesellschaft, in welcher der Schreiber dieses Nachrufs gar oft mit
ihm gesessen, ging ihm das Herz auf und mit warmer Bewunderung sprach
der alte Mann alsdann von dem weltgeschichtlichen Beruf der deutschen
Arbeiter, die einst „die alte Bourgeoiswelt" — so drückte er sich gerne aus —
durch eine neue und schönere zu ersetzen hätten.

Sein Denkmal hat er sich selbst gesetzt in seinen Werken und seine
Schriften werden fortfahren zu wirken im Sinne der wahrhaften, der sozialen
Demokratie für Freiheit und Gerechtigkeit. w b.

Redaktion, Georg Bastler, Druck und Verlag: I. H. W. Dietz, beide in Stuttgart.
 
Annotationen