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Nr. 126 des „Wahren Jacob" gelangt am 23. Mai 1891 zur Ausgabe.

- 1008

-oss. Wilhelm Weitling.

Unter den Namen derjenigen, die an der Wiege der deutschen Arbeiter-
bewegung gestanden, nimmt einen der ersten Plätze ein der Name des
Schneidergehilfen Wilhelm Weitling.

Es ist eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß der bedeutendste deutsche
Vertreter des utopistischen Kommunismus — und diesen Titel darf man
Weitling wohl beilegen — nicht, wie die großen Utopisten Frankreichs und
Englands, der bürgerlichen Klasse angehörte, sondern aus den Reihen des
Proletariats hervorgegangen ist, seine kommunistischen Schriften als Prole-
tarier für Proletarier verfaßt hat. Was für Will,. Weitling selbst nicht nur
eine an Entbehrungen überreiche Jugend, sondern auch bittere Enttäuschungen
nach einer unter den glücklichsten Anzeichen eröfsneten Laufbahn zur Folge
hatte, erwies sich für seinen Kommunismus nach einer Richtung hin als
Vorzug. Es ist nicht schwer, in allen Schriften Weitling's starke Anlehnung
an Cabet und Fourier herauszufinden, den Beweis zu liefern, daß er eigent-
lich nur ein Schüler dieser Fianjosen und indirekt des englischen Utopisten
Owen war, aber wenn auch Weitling seine Ideen ihnen entnahm, bezw.
aus ihren Schriften geschöpft hatte, so hat er sie doch mit einem neuen
Geist erfüllt: dem des erwachenden
Proletariats. Die Rücksichtslosigkeit
des jungen Schneidergesellen gegen
alle bürgerlichen Vorunheile verliehen
seinem Kommunismus eine Kraft und
eine Kühnheit, die ihm ein durchaus
originales Gepräge gaben. Es ist nicht
mehr die bürgerliche Philanthropie,
das Mitleid, sondern der proletarische
Trotz, der Protest, der eine Neu-
gestaltung des gesellschaftlichen Or-
ganismus verlangt.

Wilhelm Weitling hat im Jahre
1808 als außereheliches Kind in
Magdeburg das Licht der Welt
erblickt. Nach einer in Noth und
Entbehrung zugebrachten Kindheit
erlernte er das Schneiderhandwerk
und von seinem 20. Lebensjahr an
durchzieht er als Schneidergeselle die
Welt. Schon damals nahm er leb-
haften Antheil an den öffentlichen
Angelegenheiten, und 1830 finden
wir ihn in Leipzig, wo eine radikale
Bewegung bestand, als politischen
Verseschmieder. Nachdem er schon
1835 vorübergehend sich in Paris
ausgehalten, kehrte er 1837 dorthin
zurück und verblieb daselbst bis zum
Mai 1841. Paris war damals
thatsächlich die Lichtstadt, das Herz
der Welt. Es war der Sammel-
punkt der Freiheitskämpfer aller
Länder, alle Reformideen hatten in
Paris ihre geistige Heimstätte. Ueber-
all sprach man von Sozialismus,
gcs ellschastlicher Umgestaltung, Eman-
zipation aller Unterdrückten. Schrift-
steller ersten Ranges verfochten so-
zialistische Theorien in der Presse,
und in den Arbeiterwirthschaften
wurden die verschiedenen Systeme
in lebhaften Debatten gegeneinander abgewogen. Was nach Paris kam,
wurde fast ausnahmslos von dieser Strömung ersaßt. „Im Allgemeinen
genügten zwei Monate Boulevards", sagte 36 Jahre später der Russe
Bakunin zu einem seiner Fteunde, „einen Liberalen zum Sozialisten zu
machen. Wir glaubten damals wirklich, vor dem Zusammenbruch der
alten Zivilisation zu stehen."

Auch die deutschen Arbeiter in Paris nahmen an dieser Bewegung leb-
haften Antheil. Der „Bund der Gerechten", der sich fast nur aus Arbeitern,
und zwar hauptsächlich Schneidern, zusammensetzte, verfolgte kommunistische
Bestrebungen, und ihm schloß sich Weitling mit dem ganzen Eifer seines
regen Temperaments an. 1838 vcrfaßte er bereits im Aufträge des Bundes
seine erste Schrift: „Die Menschheit, wie sie ist und wie sein sollte". Und
ebenfalls im Aufträge dieses Bundes übcrsiedelte er im Jahre 1841 nach
der Schweiz, vorerst nach der Westschweiz. Dort entwickelte er eine un-
ermüd.iche propagandistische Thätigkeit. Im Verein mit Gesinnungsgenossen,
die er theils vorgefunden, thcils gewonnen, gründete er im Herbst desselben
Jahres eine Monatsschrift: „Der Hilferuf der deutschen Jugend", die eine
Verbrüderung aller Arbeiter predigt, und läßt ihr Anfang 1842 das Monats-
blatt „Die junge Generation" folgen. Im Dezember desselben Jahres er-
scheint sein Hauptwerk: „Garantien der Harmonie und Freiheit",
das eine systematische Darstellung seiner Lehre enthält. Während er dieses
Buch schrieb, bestritten seine Gesinnungsgenossen seinen Lebensunterhalt, und

Arbeiter waren es auch, die durch freiwillige Beiträge die Mittel aufbrachten,
die der Druck des Werkes erforderte. Es machte großes Aussehen und trug
Weitlmg heftige Angriffe, aber auch begeistertes Lob ein. Karl Marx be-
zeichnete es 1844 im Pariser „Vorwärts" als „maßloses und brillantes
Debüt der deutschen Arbeiter" im Gegensatz zur „kleinlauten Mittelmäßig-
keit" der bürgerlichen Literatur.

Maßlos — das ist in der That das bezeichnende Wort. Das Buch
ist eine merkwürdige Mischung von nüchternem gesunden Menschenverstand
und kühner Phantastik. Und wie das Buch, so der Mensch. Während er
Arbeiterbildungsvereine gründet, Speiseassoziationen, in denen die Arbeiter
den Gedanken der kommunistischen Solidarität praktisch bethätigen lernen
sollen, ins Leben ruft, träumt er davon, sich mit dem Verbrecherthum in
Verbindung zu setzen, um die Besitzenden zu brandschatzen. Und alle Ueber-
redungslünste seiner Freunde bringen ihn von dieser Idee nicht ab. Aber
auch in Bezug auf sein geistiges Können kennt er weder Maß noch Ziel.
Er ist über Nacht zum großen Mann geworden, und steuert wider die Klippe,
an der so viele Autodidakten scheitern: maßlose Selbstüberschätzung. Eine

lange, lange Zeit der Leiden beginnt.
In Zürich, wohin er übersiedelt,
wird er 1843 verhaftet, eine Unter-
suchung gegen ihn eingeleitet, er wird
auf Grund eines schmachvollen Ten-
denzurtheils zu zehnmonatlicher Ge-
sängnißhaft verurtheilt und nach ver-
büßter Hast über die Grenze trans-
portirt. Im Badischen wird er sofort
festgenommen, nach Preußen ausge-
liefert, dort nach Magdeburg als
Militärflüchtling geschleppt, aber,
nachdem er für untauglich befunden,
sreigelassen. Von nun an führt
er ein unstätes Leben, bald in
London, bald am Rhein, bald in
Brüssel. Nirgends findet er die-
jenige Anerkennung, auf die er An-
spruch zu haben glaubt. In jeder
Kritik sieht er nur den Tadel,
hinter jedem Widerspruch wittert
er Neid und Rivalität. Seine
späteren Schriften, vom „Evan-
gelium des armen Sünders", das
er schon in Zürich vollendet, an-
gefangen , verrathen noch immer
Talent, stehen aber an Bedeutung
den „Garantien" weit nach. Er
wandert nach Amerika aus. Da
bricht die Februarrevolution aus,
und voller Erwartung kehrt er nach
Europa zurück. Im Juli 1848
giebt er in Berlin eine Wochen-
schrift: „Der Urwähler", heraus,
die aber schon nach der fünften
Nummer an Abonnentenmangel ein-
geht. Er betheiligt sich im Oktober
am Demokratenkongreß, findet aber
mit seinen Ideen wenig Anklang.
Im November aus Berlin aus-
gewiesen, wendet er sich Hamburg
zu und gründet dort und in Altona
Sektionen des „Besreiungsbundes". Auch giebt er in Hamburg eine dritte,
um zwei Abschnitte vermehrte Auflage seiner „Garantien" heraus. Wieder
wird eine Verfolgung gegen ihn eingeleitet, und er wandert aufs Neue
nach Amerika aus, diesmal für immer.

Nach allerhand fehlgeschlagenen Unternehmungen, wohin auch eine
„Communia" genannte kommunistische Kolonie gehört, fand Weitling jen-
seits des Ozeans schließlich eine Anstellung als Schreiber im New Porter

Einwanderungsbureau, die ihn wenigstens vor materieller Noth schützte.

Jctzt hielt er sich von jeder propagandistischen Thäügkeit zurück und be-
schäftigte sich in seinen Mußestunden nur noch mit allerhand Erfinderproblemen
und astronomischen Arbeiten, da er ein neues Weltsystem entdeckt zu haben
glaubte.

Als die Internationale Arbeiter-Assoziation sich nach Amerika aus-
breitete, nahm Weitling zwar ebenfalls keinen direkten Antheil an der Be-
wegung, sprach sich aber privatim zustimmend zu derselben aus. Und am
22. Januar 1871 erschien er auf einem Verbrüderungsfest der deutschen,
französischen und englischen Sektion der Internationale. „Der alte Knabe
Weitling war da und entzückt über den Verlauf", heißt es in einer Korre-
spondenz des Leipziger „Volksstaat" über lenes Fest.

So nahm sein Leben wenigstens einen harmonischen Abschluß. Denn
drei Tage später, am 25. Januar 1871, schloß Wilh. Weitling die Augen
für immer.

Verantwortlich für die Redaktion: Georg Baßler in Stuttgart. — Druck und Verlag: I. H. W. Dietz in Stuttgart.
 
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