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1102

F)er faule Schuldner Mrich.

(Laut amtlicher Bekanntmachung im „Neichsanzeiger" klagt Fürst Bismarck gegen den Tagelöhner Ulrich wegen Mietherückstände,
unterlassener Arbeitsleistung und wegen Nichtlieferung zweier Hühner und einer Gans im Werthe von 5 Mark.)

Ja ja, Durchlaucht, wenn je ein Mensch verstanden
Klug zu verwalten all sein irdisch Gut,

So weist die Welt, dast es in deutschen Landen
Kein Andrer gleich dem „grosten Kanzler" tstnt.
Nicht dlost der Jude weist zu kalkuliren.

Auch Sie, Durchlaucht, verstanden es — und wie!
And dast zu Doppelkronrn sich summirrn
Die schlichten Nickel — Sir vergesten's nie.

Jetzt, wo man Itzrem Wunsche nachgekommen
Und mit Penstvn Sie freundlich kaltgrstellt,

Nun geben Sie, mein Herr, zu Nutz und Frommen
Ein schönes Beispiel der verderbten Welt.

Jetzt kann stch ungetzindert erst entfallen
Die Wirttzlichkeit des genialen Manns —

Jetzt kann er Klagen, weil itzm vorrntstalten
Der Hühner zweie man und eine Gans.

„Die Sache wird mit jedem Tage schöner
Und unerträglich ist ste wirklich schon.

Da, dieser Ulrich, dieser Tagelöhner,

Ist rin verstockter, widriger Patron!

Auch keine Miethe will er mir bezahlen,
Nachdem er Gans und Hühner mir versagt?
Doch irrt er stch! Wir werden ihm was malen!
Der unverschämte.Lümmel wird verklagt!

„Und dann die letzte, schmählichste Erdreistung!
Selbst einem Engel reistt da die Geduld.

Mit dreistig Tagen strammer Arbeitsleistung
Steht dieser Ulrich noch in meiner Schuld.

Was mir gebührt, das werd' ich auch verlangen.
Und ist der faule, liederliche Wicht,

Der nicht bezahlen mag, mir durchgegangen,

So schlepp' ich seinen Namen vor Gericht."

Nur zu, mein Fürst! Nur ja nicht mürbe werden!
Sie stehen ja in Ihrem vollen Recht.

Als noch die alte Ordnung war auf Erden,
Gab's Prügel für den unfolgsamen Knecht.

Nicht mehr gestattet leider ist das heutq
Und ebenbürtig dünkt stch jeder Tropf;

Da packe denn die unbotfamen Leute
Der Exekutor rückstchtslos beim Schopf!

Sie haben einst der Kanzlerschaft Verhöhner
Durch Formulare in das Loch gebracht,

Und ärgern jetzt Sie Ihre Tagelöhner,

So wird den Kerlen der Prozest gemacht!

Und wenn man auch, statt Ihren Muth zu ehren»
Die Prozedur mit bösen Namen nennt —
Fürwahr, Sir brauchen stch nicht drum zu schrrrrn,
Sie stnd und bleiben eben — konsequent!

DaF beunruhigende Gefühl.

Der Staatsanwalt Findig saß behaglich in seinem Lehnstuhl beim
Frühstück und las die Morgenzeitung. Sein scharfes Auge irrte unruhig
über die Zeilen, ob nicht irgendwo versteckt eine Nachricht sich finde, die
einen Anlaß böte zum Einschreiten. Aber er fand nichts, und das behag-
liche Lächeln machte allmälig einem Ausdruck des Mißmuths Platz.

Schon seit Wochen sann er darauf, die Strafrechtspflege durch eine
neue geistreiche Auslegung irgend eines Paragraphen zu bereichern und da-
durch seinem Namen neuen Glanz zu verleihen; doch die Götter schienen
ihm zu grollen und seine Augen mit Blindheit zu schlagen.

Wieder und wieder durchflog er die Zeitung und schon wollte er sie
enttäuscht beiseite legen, als plötzlich sein Auge am „Vermischten" haften blieb.

„Hm, hm," sagte der Herr Staatsanwalt zufrieden, dann langte er
seinen Nothstift hinterm Ohr hervor und machte einen dicken rothen Strich
hinter dem Aufsatz, der die Spitzmarke trug: „Justizmord in China im
sechzehnten Jahrhundert."

Dann legte sich der diensteifrige Mann behaglich in seinen Lehnstuhl
zurück und schloß die Augen, um in aller Ruhe über den „Fall" Nachdenken
zu können. Das konnte wieder einmal einen sensationellen Prozeß abgeben!
Die Notiz sah so unscheinbar und harmlos aus, aber um so gefährlicher war sie.

Der Herr Staatsanwalt argumentirte so: Wenn ein Justizmord in
China Vorkommen konnte, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß
auch in Deutschland sich ein solcher ereignen kann, da die Zustände Deutsch-
lands mit denen Chinas viele Aehnlichkeit besitzen. Nun ist zwar jener
Justizmord im sechzehnten Jahrhundert geschehen, aber es passiren noch heute
in Deutschland Dinge, die ganz gut im sechzehnten Jahrhundert hätten
geschehen können, warum sollen also Dinge, die im sechzehnten Jahrhundert in
China passirten, nicht auch heute noch in Deutschland Vorkommen können?
Es ist also als erwiesen anzunehmen, daß in der Gegenwart in Deutschland
Justizmorde nicht unmöglich sind. Wenn nun aber in der Gegenwart in
Deutschland Justizmorde möglich sind, so muß dies unzweifelhaft die Be-
völkerung beunruhigen, denn Niemand ist sicher, ob nicht gerade er justiz-
gemordet wird. Hätte die Morgenzeitung den Fall aus China nicht mit-
getheilt, so würde Niemand in Deutschland an die Möglichkeit eines Justiz-
mordes glauben, es würde also auch Niemand beunruhigt sein, da aber die
Leute beunruhigt sind und die Beunruhigung des Publikums sich als grober
Unfug darstellt, so hat folglich die Morgenzeitung durch die Veröffentlichung
des Aufsatzes groben Unfug verübt und ist deshalb in Strafe zu nehmen.

Findig athmete erleichtert auf, als er diese juristische Schwergeburt
glücklich zur Welt gebracht hatte.

Nachdem sich Herr Findig die Sache in Gedanken recht hübsch zurecht-
gelegt hatte, trat an ihn die Aufgabe heran, eine Person ausfindig zu
machen, die durch den Zeitungsartikel wirklich beunruhigt worden war.
Das war aber keineswegs so leicht, als wie er es sich gedacht hatte. Wohl
hatten unzählige seiner Freunde und Bekannten den Artikel gelesen, aber
keiner hatte sich beunruhigt gefühlt und keiner hielt es auch nur für mög-
lich, daß sich dadurch Jemand beunruhigt fühlen könnte.

Der Staatsanwalt war in Verzweiflung. Sollte sein schöner Traum
in nichts zerrinnen? Das konnte, das durfte nicht sein.

Endlich lächelte dem vielgeprüften Manne das Glück. Ein alter Freund
von ihm, den er unvermuthet traf, hatte auch den Artikel gelesen und hatte
sich beim Lesen desselben wirklich beunruhigt gefühlt.

Findig fiel dein Freunde in der Noth gerührt um den Hals und
opferte einige Flaschen Wein; dann aber eilte er, die nöthigen Schritte ein-
zuleiten.

Der Tag der Verhandlung kam. Alle Welt war auf den Ausgang
des Prozesses gespannt. Der angeklagte Redakteur und sein Vertheidiger
suchten die Nichtigkeit der Anklage zu beweisen und betonten ganz besonders,
daß es dem Herrn Staatsanwalt schwer fallen dürfte, einen Zeugen beizu-
bringen, der sich durch den Artikel beunruhigt gefühlt habe.

Jetzt war für Findig der ersehnte große Augenblick gekommen, wo er
den Angeklagten zu Boden schmettern konnte.

Der Freund betrat den Gerichtssaal und der Richter stellte an den
Zeugen die Frage, ob in ihm durch das Lesen des erwähnten Artikels ein
Gefühl der Beunruhigung, erzeugt worden sei.

Findig triumphirte, denn nun mußte das erwartete Ja kommen, aber
zum allgemeinen Erstaunen erfolgte ein verwundertes Nein!

„Aber Freund," rief der Staatsanwalt entsetzt, „hast Du mir nicht
selbst gesagt, daß Du beim Lesen des Artikels ein Gefühl der Beunruhigung
gehabt hättest?"

„Das habe ich auch gehabt," entgegnete der gute Monn mit größter
Seelenruhe, „aber nicht durch den Artikel selbst, sondern weil ich während
des Lesens desselben meine Schwiegermutter auf das Haus zukommen sah."

Der Staatsanwalt vermochte weder die Anklage, noch sich selbst aufrecht
erhalten — vernichtet sank er in seinen Stuhl zurück. Mit seinem Freunde
aber hat er nicht wieder gesprochen.
 
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