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-rO OlkolauK Gawrllowttsch EschernischewMn. Oi-

Wir neigen nur zu sehr zur Schablone. Irgend ein Wort, das eine
bestimmte Phase in einer bestimmten Bewegung leidlich gut bezeichnete, wird
später auf die ganze Bewegung ausgedehnt, und irgend ein Mann, der in
dieser Bewegung eine bedeutende Rolle gespielt, wird unterschiedslos mit allen
Erscheinungen derselben identifizirt. So nur war cs möglich, daß Tscherni-
schewsky wiederholt als der Vater des russischen Nihilismus hingestellt werden
konnte. Es hat das genau so viel Berechtigung, als wenn man Voltaire
als den Vater der Schreckensmänner von 1793 bezeichnen wollte.

Die Befreiungsbewegung — wie man sie zusammenfassend vielleicht am
besten nennt — welche in Rußland nach dem Tode Nikolaus I. einen so
gewaltigen Aufschwung nahm, weist in ihren mannigfachen Verzweigungen
auch eine Strömung auf, die als Nihilismus bezeichnet wurde. Dieselbe
erschien als der äußerste Radikalismus, bedeutete aber in Wirklichkeit einen
Rückschritt gegenüber der Bewegung Ende der fünfziger und Anfang der
sechziger Jahre, zu deren glänzendsten Vertretern Tschernischewsky gehört
hatte. Sie setzte zwar da ein, wo dieser aufgehört, aber keineswegs in der
Richtung der Weiterentwicklung, son-
dern schlug eine Bahn ein, die noth-
wendigcrweise in eine Sackgasse führte.

Sie glaubte, die Höhe der Kritik in der
absoluten Negation des Bestehenden suchen
zu müssen, während Tschernischewsky
sich begnügt hatte, das Bestehende zu
kritisiren, um es zu reformiren. Ohne
diese Grundtendenz ist die Negation un-
fruchtbar, und das zeigte sich denn auch
hier. Bereits Ende der sechziger Jahre
hatte der eigentliche Nihilismus aus-
gespielt. Ein Theil seiner Anhänger
wurden friedliche Staatsbürger, ein
anderer Theil mit Bakunin und Netscha-
jeff Anarchisten, wieder Andere wandten
sich dem Sozialismus zu. Geblieben ist
nur der Name, den von jetzt an Regierung
und Spießbürgerthum auf die ganze
kämpfende Opposition übertragen.

Das Wort in diesem Sinne ge-
nommen, könnte man allerdings schon
eher Tschernischewsky den Vater des
Nihilismus nennen, denn kein Schrift-
steller hat wohl größeren Einfluß auf das
für Freiheit und Fortschritt kämpfende
Rußland ausgeübt als er, aber es bleibt
doch immer die schiefe Nebenbedeutung
stehen, und auch sonst ist es wenig im
Geiste dieses so folgerichtigen Denkers
gehandelt, wenn man seinen Namen mit
einem Wort verbindet, hinter dem sich
alles Mögliche verbergen kann.

Denn nichts zeichnet Tscherni-
schewsky mehr aus, als sein unablässiger
Kampf gegen die verschwommene Phrase.

„Irgend einer unserer Leser," sagt er
einmal, „der von der Unerläßlichkcit der
Forderungen einer wissenschaftlichen
Terminologie und ihrer strengen Be-
obachtung nicht völlig durchdrungen ist,
wird vielleicht unser Bemühen, dm Sinn
jedes der Ausdrücke in dem Werk, das wir übersetzen, genau zu analysiren,
als scholastisch bezeichnen. Niemand verachtet wohl die Scholastik mehr als
wir, aber was thun, wenn eine Menge von Schriftstellern, die als Autoritäten
in der politischen Oekonomie gelten, sich ihrer bedienen, um die wahre Be-
deutung der Smith'schen Theorie zu entstellen?" Und er zitirt eine Rede
Lord Broome's, in der die Forderungen wissenschaftlicher Terminologie ^,kurz
und klar" in folgende Regeln zusammengefaßt werden:

„1. Wende stets die klarsten und unzweideutigsten Worte an.

„2. Wende nie ein Wort, das zweierlei Bedeutungen hat, an, ohne
erklärt zu haben, in welcher der beiden Bedeutungen Du es gebrauchst:

„3. Gieb nie demselben Wort zwei verschiedene Deutungen.

„4. Wende nie mehrere Worte in ein und demselben Sinne an."

Diese Maxime hat er, so weit es ihm möglich war, in seinen Schriften
aufs Strengste befolgt. Und wo es ihm nicht möglich war, wo die Rücksicht
aus die russische Zensur ihn zwang, seine Gedanken hinter Worten zu ver-
bergen, die scheinbar das Gcgentheil ausdrückten, selbst da kommt der Geist,
der dieser Maxime zu Grunde liegt, so entschieden zum Ausdruck, daß Jeder-
mann den richtigen Sinn seiner Worte alsbald verstand. „Tschernischewsky,"
schreibt einer seiner Schüler, „war vorzugsweise der Mann des logischen, gemessen
streng verarbeiteten Gedankens," er „haßte alle Dekorationen, Rollen, hoch-
tönenden Phrasen," „sein Ideal war die Wahrheit," er „gründete eine wirkliche
Schule, er erzog die Menschen, er bildete eine ganze Generation." Aber er war
durchaus kein trockener Schulgelehrter. „Tschernischewsky, dieser kalte, unbarm-
herzige, unzugängliche Tschernischewsky freute sich wie ein Kind über jedes Lebens-
zeichen in Rußland, über jede Handlung, die Bewußtsein, Energie verrieth."

Dieselbe Schrift, der diese Sätze entnommen sind, theilt eine Stelle aus

einer Polemik Tschernischewsky's gegen die Slavophilen mit, die so bezeichnend
für diesen Denker ist, daß sie auch hier abgedruckt zu werden verdient. Sie
handelt von der Frage der Befreiung der türkischen Slaven.

„Ihr, die Ihr den türkischen Slaven wohl wollt, d. h. wenigstens beständig
von Euren Gefühlen für die „Slaven-Brüder" sprecht, bemühet Euch nur,
den Westmächten die Ueberzeugung einzuflößen, daß beim Untergange der
türkischen Macht in Europa die Donaufürstenthümer und Bulgarien nicht von
Rußland verschlungen, und daß alsdann Konstantinopel nicht in eine russische
Provinzialstadt verwandelt werde. Habt Ihr einmal die Westmächte hierüber
beruhigt, so werden sich die türkischen Slaven ohne irgend welche von Euch
zu leistende Hilfe frei machen. Durch Eure sentimentalen Ergüsse und gefühl-
vollen Betrachtungen über den Beruf des russischen Adlers, die slavischen
Stämme mit seinen mächtigen Fittigen zu beschützen, schadet Ihr, und zwar
aufs Allerbestimmteste, der Befreiung der türkischen Slaven."

Man darf natürlich'nicht vergessen, daß diese Zeilen vor dem preußisch-
österreichischen und dem deutsch-französischen Krieg geschrieben sind, dank denen

1877 Rußland in die Lage versetzt wurde,
seine „Befreierrolle" auf dem Balkan
von Neuem aufzunehmen. Aber selbst
wenn Tschernischewsky in seinen Voraus-
setzungen wirklich geirrt hätte, in der
Tendenz — worauf es hier ankommt —
zeigt er sich als echter, von allem National-
dünkel freier Demokrat, das Wort in
seinem besten Sinne genommen. Er
schmeichelt nicht dem Volksvorurtheil, er
bekämpft es. Der Artikel, dem die zitirte
Stelle entnommen ist, ist überschrieben:
„Der volksthümliche Unverstand."

Tschernischewsky war daher auch
weit entfernt von jener Vergötterung der
Volksinstinktc, mit der Bakunin später
so viel Unheil angerichtet hat. Keiner hat
eifriger für die Bauernemanzipation ge-
wirkt, wie er, keiner energischer wie er
dafür gekämpft, den Bauern den ihnen
gebührenden Antheil am Grund und
Boden zu sichern, keiner rücksichtsloser den
Betrug gebrandmarkt, der bei der soge-
nannten Emanzipation an ihnen verübt
wurde. Aber nie hat er sich verhehlt,
daß ein Volk von Leibeigenen, Jahr-
hunderte lang in Rohheit und Unwissen-
heit erhalten, nicht im Handumdrehen ein
Kulturvolk werden kann. „Das un-
wissende Volk, voll grober Vorurtheile,
beseelt von blindem Haß," schrieb er
einmal, „wird, wenn es seine Gewohn-
heiten verlassen hat, keinen Unterschied
machen zwischen den Leuten, welche das
deutsche Gewand tragen;" — d. h. den
europäisch Gebildeten — „mit ihnen Allen
wird es in gleicher Weise verfahren; es
wird nicht die Wissenschaft schonen, nicht
die Poesie, es wird unsere ganze Kultur
zertrümmern."

Solch' nüchterne Denkart war aber
nicht nach dem Geschmack der Herzen
und Bakunin, welche die Köpfe ihrer Landsleute mit der Phrase von dem
„verfaulten Westen," dem das „junge Slaventhum" neues Leben eiüimpfen müsse,
benebelten. Als Tschernischewsky ins öffentliche Leben eintrat, wurde er von
Herzen in der „Glocke" verdächtigt, und als Bakunin seine Agitation unter der
russischen Jugend aufnahm, begann er damit, Tschernischewsky anzugreifen, der
ein Stubenhocker, ein Bücherwurm gewesen sei und das Volk nicht gekannt habe,
das jeden Augenblick zur Revolution bereit sei. Wie viel zwecklose Vernichtung
von Menschenglück und Menschenleben dieser Sirenengesang verschuldet hat, läßt
sich in Zahlen nicht ausrechnen, wer die Geschichte der russischen Bewegung
verfolgt hat, weiß aber, daß Tausende diesem Wahn zum Opfer gefallen sind.

Tschernischewsky wollte die Jugend seines Volkes zur sozialen Erkenntniß
erziehen, sie zu charaktervollen Männern des Gedankens und der That heran-
bilden. Diesem Bestreben ist auch sein im Gefängniß geschriebener Roman
„Was thun" gewidmet, der in ebenso einfacher, wie eindrucksvoller Schilderung
für das Recht der freien Persönlichkeit eintritt, ein Postulat, das zwanzig
Jahre später die nordische Dichterschule aufnahm, allerdings ohne daß sie ihre
Helden, wie Tschernischewsky, auch im Uebrigen mit den bürgerlichen Vor-
urtheilen brechen läßt. Der russische Vorläufer der Ibsen und Björnson schildert
eben nicht nur „neue Menschen," sondern auch eine neue Gesellschaft.

Durch rastloses Arbeiten hatte sich Tschernischewsky zu einem Gelehrten
von europäischem Ruf emporgeschwungen, als er infolge eines schmachvollen
Tendenzprozesses nach Sibirien deportirt wurde. Nach verbüßter zwanzig-
jähriger Strafe ruhte der Haß nicht, man hielt den gebrochenen Mann noch
jahrelang in einem elenden Dorfe im fernen Ostsibirien zurück, bis man ihn
endlich, als es mit ihm zu Ende ging, zur Rückkehr in seine Heimatsstadt
Saratow „begnadigte," wo ihn bald der Tod ereilte.

Verantwortlich für die Redaktion: Georg Baßler in Stuttgart. — Druck und Verlag: I. H. W. Dietz in Stuttgart.
 
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