Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0183

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Der Strick.
von Hans H^an.
.Lauter hirnverbrannte, verrückte
Ideen . . . Fortwährende Erwartung eines
Ereignisses, das gewiß niemals eintreten würde
und dann die Angst, diese verdammte Furcht!
. . . Es ist doch zu lächerlich, wenn ein Offi-
zier, ein Premierlieutenant, Abends, beim Nach-
hausekommen, in Helle Verzweiflung darüber
geräth, daß er keine Wachslichtchen bei sich
hat, um während des Hinausgehens den dunklen
Flur, die finstere Treppe zu beleuchten-
pah! Die Nervosität des Jahrhunderts ver-
schont eben keinen, warum gerade ihn? Was
ist das überhaupt für ein Unsinn: ein Mensch,
den seine Eltern von klein auf förmlich zum
Militär dresfirt haben, ganz gleichgiltig, ob
er damit seinen wahren Beruf erfüllt oder
nicht, der soll nun, einzig und allein deshalb,
weil er nach vieler Mühe wirklich Offizier ge-
worden ist, auf einmal den Muth eines Löwen
entwickeln. Wo in aller Welt soll er den her-
nehmen? Etwa gar aus den Kadettenanstalten,
diesen Brutstätten für junge Idioten?
. . . Wahrhaftig, die Menschen sind sonder-
bar! Sie verlangen so viel von einander und
sind selbst so wenig geneigt und oft sogar ganz
unfähig, ein Aequivalent dafür zu geben. Zum
Beispiel der Oberst Steinberg, der bei jeder
Gelegenheit vom „Aushalten bis auf den letzten
Mann" oder vom „sich in Stücke hauen lassen"
sprach und von dem doch jeder Einzelne im
Regiment wußte, daß er dem kleinsten Hund
scheu aus dem Wege ging — natürlich nur
aus einer angeborenen Scheu gegen Hunde. ..
Der Lieutenant v. Brenner lag, während
er diesen Gedanken nachhing, langausgestreckt
in einem verstellbaren, mit einem Eisbärenfell
überdeckten Lehnstuhl. Auf dem Tisch neben
ihm stand eine Bronzelampe, deren kräftiges
Licht der dunkelblaue Seidenschirm herab-
drückte und es auf der zimmetfarbenen Plüsch-
decke in einem großen, glänzenden Kreise fest-
hielt. In diesem Lichtkreis aber lag, auf-
geschlagen, eine Bibel.
Es war eine von den alten mit schwärz-
lichem Ledcrdeckel und vergilbtem Papier, aus
welchem der Druck der einen Seite vielfach
das Blatt durchdrungen und so die Schrift
auf der anderen Seite unleserlich gemacht
hatte.
Der Lieutenant v. Brenner beabsichtigte
auch eigentlich gar nicht darin zu lesen, die
Bibel war ihm nur, als er vorhin in seinen
Büchern kramte, in die Hände gefallen, darüber
hatte er dann vergessen, was er eigentlich
suchte — das passirte ihm in letzter Zeit sehr
oft — und dann hatte er die Bibel, aufgeschla-
gen, neben sich auf den Tisch gelegt.
Nun saß er, leicht vornübergebeugt, mit
verschlungenen Händen und grübelte. Oder
eigentlich starrte er nur vor sich hin, den
Kopf voll plötzlich beginnender und ebenso
schnell wieder ins Nichts huschender Gedanken
und geplagt von einein leisen, für die Dauer
aber schwererträglichen Druck auf den Hinter-
kopf — etwa an der Stelle, wo die Mönche
ihre Tonsur tragen . . . nebenbei bemerkt, hatte
er diesen Kopfschmerz nun schon seit Wochen; es
war zum Verrücktwerden . . .

Der Lieutenant hob die Arme und preßte
die schmalen, glänzendpolirten Nägel seiner
langen, starkbehaarten Hände gegen beide
Schläfen. Dann riß er mit einer hastigen
Bewegung die Bibel an sich, um wohl fünf
Minuten lang darin zu blättern und, die Zeilen
überfliegend, nach irgend einer Stelle zu suchen.
Vergeblich, er fand nicht, was er suchte . . .
Der schwere Bibelband flog krachend zu
Boden. Der Lieutenant ergriff eine auf dem
Tisch stehende Cognacflasche, goß sich ein Wein-
glas voll und leerte es in einein Zuge.
„. . . Rauchen?" er faßte nach dem aus
Rehkronen kunstvoll gearbeiteten Zigarren-
becher, „. . . aber nein, der niederträchtige
Kopf . . werd's lieber lassen."
Er erhob sich und ging mit starken Schritten
durch's Zimmer. Im Gehen stieß sein Fuß
an die Bibel. Er hob sie auf und der vordere
Deckel klappte zurück.
Ueber des Lieutenants brünettes und durch
den weit über die Mundwinkel reichenden,
sehr starken Schnurrbart ein wenig wildes
Gesicht ging es plötzlich wie Sonnenleuchten,
und ehrfurchtsvoll drückte er die Lippen auf
die verblichenen und kaum noch lesbaren Schrift-
züge, die dort oben, auf der weißen Innen-
seite des Deckels, lange nicht mehr betrachtet
und halbvergessen, standen.
„Meinem Kinde
Natalie v. Brenner."
Mehr war dort nicht zu lesen, aber diesen
zarten, gebrechlichen Buchstaben gab irgend
etwas den Anschein, als wären sie in Thränen
geschrieben.
Der Lieutenant v. Brenner lachte bitter in
sich hinein . . Ah, diese Thränen, der Jammer,
unter dem seine Kindheit hinging, wie ein Bach,
auf dessen trübseligem Wasser weitschattende
Waldbäume nie das Sonnenlicht tanzen lassen.
Und wie hätte es auch anders sein können in
einer Ehe, wo das Weib für ihre Hundert-
tausende den Rang und Titel ihres Gatten
eintauscht?! Und dazu die Verschiedenheit der
Charaktere: die Mutter liebevoll und empfäng-
lich für alles Edle und Schöne, aber auch
überschwänglich sentimental und furchtbar
empfindlich; und mit all' diesen Eigenschaften
an einen Mann verheirathet, der ein Offizier,
ein Sportsmann und ein brillanter Gesell-
schafter, überhaupt alles Andere war, nur kein
guter Gatte und Familienvater. . .
Er selbst hatte bei diesen unaufhörlichen
Zwistigkeiten immer zur Mutter gehalten, die,
voller Widerspruchsgeist, jede Strafe, die der
Vater über den wilden Jungen verhängte,
durch ihre Liebkosungen und Geschenke un-
wirksam machte . . und später, als die Krank-
heit den Vater mit Schmerzen überhäufte und
ihn doch nicht sterben ließ, Jahre und Jahre
lang — „das ist die Vergeltung!" hatte die
Mutter einmal, sinnlos vor Zorn, nach
einem schweren Zank dem Kranken zu-
geschrieen —, auch damals am Leidensbett
des Vaters hatte er mehr Grauen als Mitleid
einpfunden . . .
Aber die Vergeltung . .?
Gab es denn überhaupt so etwas wie eine
Vergeltung? War es wirklich so, daß jedem
Frevel früher oder später die Rache folgen
mußte? . .

Achtlos legte der Lieutenant die Bibel bei
Seite und nahm seine Wanderungen durch
das in bläuliches Dämmer gehüllte Zimmer
wieder auf.
Aber diese Schatten störten ihn. Er hob
den Schirm von der Lampe und, da die feine
Seide an den Spitzen der Lampenglocke hängen
blieb, riß er sie nervös mitten durch, dabei
scheu und hastig um sich blickend.
„Es ist wahrhaftig zu lächerlich!"
Und er lachte in der That, aber dies Lachen
kam ihm nicht von Herzen. Darauf ging er
hinüber nach dem Sopha, über dem ein Armee-
revolver an der Wand hing, und überzeugte
sich, daß der Revolver geladen war.
Indem er jedoch die Waffe wieder auf
ihren Platz brachte, überfiel den großen, kräf-
tig gebauten Mann ein furchtbares Zittern.
Vor sich sah er einen Menschen mit durch-
stochener Brust und kalkweißem, entsetzens-
starren Gesicht. . dessen Augen förmlich aus
den Höhlen quollen — eine gräuliche Er-
innerung . . .
Der Lieutenant ging, das Gesicht mit der
Hand beschattend, ans Fenster und sah durch
die Scheiben auf die Straße hinab, wo in dem
Flackerschein der seltenen Laternen nur verein-
zelt ein Mensch sichtbar wurde.
Der Einsame oben biß zornig auf seinen
Schnurrbart.
. . . Diese abscheuliche Erinnerung! . und
daß sie ihn auch nie und nimmer losließ . . .
Besonders in letzter Zeit . . .
Gewiß war er der Schuldige gewesen!
Was brauchte er den angetrunkenen Menschen
durch sein Stehenbleiben und durch sein über-
legenes Lächeln reizen? . . . Ehrlich gesagt,
war es des hübschen Mädels wegen geschehen,
von dem der Betrunkene, nebenbei bemerkt ein
tüchtiger Handwerker, sich nicht fortzishen
lassen wollte.
In wenigen Augenblicken hatte es sich dann
abgespielt — das Unglück. Der Betrunkene
fragte den Offizier, was er da Maulaffen feil
hielte. Der Lieutenant verbat sich derartige
Redensarten. Da hob jener den Stock und —
einen Augenblick später lag der arme Kerl
sterbend, mit durchbohrtem Herzen am Boden.
Hernach, das schreiende, wie wahnsinnig
über den Bräutigam hingeworfene Mädchen,
das fahle, schreckerstarrte Gesicht des Sterben-
den mit den brechenden, blutunterlaufenen
Augen . . und der brausende Windstoß, der
plötzlich durch die Bäume des eben noch sonnen-
beschienenen Wäldchens brach — all' das war
dem Lieutenant nur noch schemenhaft, wie von
jach aufzuckenden Blitzen beleuchtet, erinner-
lich. Aber diese Erinnerung war furchtbar
und sie quälte ihn unablässig. Anfangs, in
der ersten Zeit nach der That, hatte er weniger
und nur selten darunter gelitten. Auch trank
er seit jenem Unglück viel, mehr noch, als
früher. Aber jetzt, seit einem halben Jahre
etwa, verließ ihn die Gestalt des Getödteten
fast nie mehr . . Allmälig hatten diese fürchter-
lichen Bilder greifbare Gestalt gewonnen . .
Und da, in diesem Augenblick . . da lag er
wieder . . nein, er stand, er hob die Arme
empor . . und das Blut . . und die brechenden
Augen . .!
„Friedrich!!!"

Beilage zum „wahren Jacob" Br. 2901«, 189?,
 
Annotationen